Selektion findet bereits im Kindesalter statt, in vielen Bundesländern nach der 4. Grundschulklasse, in einigen nach einer „Erprobungsstufe“ nach dem 6. Schuljahr. Obgleich die Auslese laut BildungspolitikerInnen und BefürworterInnen des Systems auf Intelligenz und Leistung beruht und sie angeblich eine gezielte Förderung sowie Hinführung auf das spätere Beruf- bzw. Studienleben ermöglicht, spiegelt sie in der Wirklichkeit die soziale Klassenzugehörigkeit vieler SchülerInnen wider und garantiert ihre Reproduktion: nach wie vor sind ArbeiterInnenkinder sowie die Söhne und Töchter von MigrantInnen an deutschen Gymnasien stark unterrepräsentiert. ArbeiterInnenkinder haben es bei gleicher Intelligenz und Leistung fast dreimal so schwer, von Lehrenden für Gymnasien empfohlen zu werden, wie Kinder der Oberschichten.
Die institutionelle Diskriminierung gegenüber Kindern aus ArbeiterInnenfamilien verstärkt sich, wenn diese einen sogenannten Migrationshintergrund haben: Im Kindergarten werden „tendenziell [...] mehr Kinder mit Migrationshintergrund zurückgestellt. [...] Auch beim Ìbergang nach der vierten Klasse wird das Herkunftsmilieu für eine Nichtempfehlung für das Gymnasium herangezogen. Insgesamt verweisen die Lehrkräfte auf ungünstige häusliche Lernbedingungen, auf ein Zuwenig an Mitarbeit der Eltern sowie auf sprachliche Defizite.“[38]
Dabei ist die Definition von Migrant-Sein sehr dehnbar. Nach der im Mikrozensus, der amtlichen Repräsentativstatistik in Deutschland, angewandten Definition „umfasst die Bevölkerung mit Migrationshintergrund sowohl ausländische als auch deutsche Staatsbürger. Darunter sind etwa zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer, Spätaussiedler, Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung sowie deren Kinder, die selbst keine unmittelbare Migrationserfahrung aufweisen. Personen mit Migrationshintergrund sind entweder selbst zugewandert oder gehören der zweiten bzw. dritten Generation an.“[39] Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit „Migrationshintergrund“ (15 Millionen EinwohnerInnen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund) besucht Haupt- und Gesamtschulen, die v..a. in städtischen Ballungszentren ihrer v.a. berufsqualifizierenden Funktion nicht mehr nachkommen können und vielmehr zu bloßen Verwahranstalten geworden sind.
Strukturprobleme in Schulen
Schwindende SchülerInnenzahlen und das nicht mehr zu vertuschende Scheitern v.a. der Hauptschulen führt in einigen Bundesländern zu einer Zusammenfassung von Haupt- und Realschulen. Es ist jedoch zweifelhaft, dass diese Versuche zur ansatzweisen Ìberwindung des dreigliedrigen Schulsystems, hinter denen sich zudem häufig der Wille zu weiteren Einsparungen verbirgt, zu erhöhtem schulischen Erfolg, besserer Vorbereitung auf das Berufsleben führen werden und die zunehmende emotionale und soziale Verwahrlosung vieler SchülerInnen aufhalten können. „Trotz der allgemeinen zehn-jährigen Schulpflicht und dem sehr differenzierten Bildungssystem in Deutschland verlassen 8% der Schüler die Schule ohne Abschluss – das waren im Jahr 2006 etwa 75.000 Schülerinnen und Schüler.“[40] Davon gelingt es etwa einem Fünftel eine Ausbildung anzuschließen. „Etwa ein Viertel schafft es noch nicht einmal eine Erwerbstätigkeit zu finden. Die Arbeitslosenquote in dieser Gruppe ist mit etwa 25% die höchste in ganz Deutschland.“[41]
Trotz der vollmundigen Versprechungen, in das Bildungssystem zu investieren, liegen die Klassengrößen auch in „Problemschulen“ bei über 30 SchülerInnen; „individuelle Förderung“ – hierbei handelt es sich um eines der Schlagwörter in der aktuellen, von den MinisterialbürokratInnen vorangetriebenen Bildungsdebatten – ist unter diesen Bedingungen nur schwer möglich. PsychologInnen und SozialpädagogInnen, die bei Lernschwierigkeiten und familiären bzw. persönlichen Problemen unterstützen könnten, sind nach wie vor nur an wenigen Schulen in unzureichender Anzahl vorhanden.
Während somit die Mehrheit der SchülerInnen von vorneherein in ihren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist – die Unterschiedlichkeit der Lernweise sowie die sehr verschiedenen lehrplanmäßigen Anforderungen an den verschiedenen Schulformen erschweren einen Schulformwechsel, d.h. die Durchlässigkeit des Systems nach oben hin ist kaum vorhanden.
Leistungsdruck als Keule zwischen SchülerInnen und Lehrenden
Durch das so genannte Turboabitur (Abitur nach 8 Jahren), die beinahe flächendeckende Einführung des Zentralabiturs, vergleichende Abschlussarbeiten, vorgegebene Raster zur Bewertung von Lernleistungen usw. werden das Lerntempo und der zu bewältigende Stoff komprimiert und normiert. Raum, den besonderen Interessen und Neigungen sowohl von SchülerInnen als auch von Lehrkräften nachzukommen, bleibt spätestens nach Eintritt in das Gymnasium nicht mehr.
Unter dem Vorwand, das Niveau zu erhöhen, europäische Standards zu erfüllen und Objektivität im Vergleich von Leistungen zu erzielen, werden zudem Lernkanons erstellt, die zunehmend für alle Jahrgangsstufen aller Gymnasien eines Bundeslandes verbindlich sind. Als Grundlage der Bewertung von Lernleistungen dienen dabei immer häufiger Punkteverfahren, die auch in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern lediglich bereits Vorgegebenes positiv bewerten; kreatives und kritisches Denken werden kaum noch gefördert, Interpretationsspielräume abgeschafft. Neben den von den Bürokratien vorgegebenen, zu bewältigenden Pensen werden jedoch auch Erfolgsquoten vorgegeben. Auch die allgemeine Verkürzung der Schulzeit auf 12 Jahre bei gleich bleibendem Lernpensum erhöht den Druck auf Lehrende und Lernende, wobei jeder individuelle Ansatz nur unter großem persönlichem Einsatz auf beiden Seiten (auf Seiten der LehrerInnen zusätzliche, nicht bezahlte Arbeitszeit) zum Erfolg führen kann.
Um die Umsetzung der von den Ministerialbürokraten vorgegebenen Pensen, Abläufe und Erfolgsquoten zu garantieren, individuelle Förderung, Kooperation unter KollegInnen (für die keine zusätzliche Arbeitszeit in Form von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung oder Fachsitzungen vorgesehen ist) und die Integration moderner, meist jedoch zeitaufwendiger Unterrichtsmethoden zu gewährleisten, bedient sich zumindest das Schulministerium NRW dem Mittel der so genannten „Qualitätsanalyse“ , d.h. von sporadischen Inspektionen an den schulische Institutionen. Als Instrument der Verbesserung von schulischen Abläufen verkauft, empfinden viele Lehrkräfte die Qualitätsanalyse ebenso wie die oben beschriebenen Veränderungen als Gängelung und eine weitere Zunahme nicht bezahlter Arbeitszeit.
Der zunehmende Leistungsdruck, der auf Lehrende und Schüler aufgebaut wird, hat bisher jedoch nur vereinzelt zu Solidarisierung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen oder sogar gemeinsamem Widerstand geführt. Vielmehr führen die sog. „Kopfnoten“ in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, also Kriterien, nach denen LehrerInnen in je drei Kategorien das Arbeits- und Sozialverhalten ihrer SchülerInnen dokumentieren sollen[42], zu einer weiteren Entfremdung zwischen den SchülerInnen und dem Lehrpersonal. Kopfnoten sind nichts weiter als ein Zensurmechanismus, der darauf abzielt MusterschülerInnen hervorzubringen, die ins System passen.. Was sich letztendlich dahinter verbirgt, ist der Versuch, Individuen mittels Noten in Schubladen stecken zu wollen. Es handelt sich also um ein weiteres Druckmittel zur Disziplinierung von „schwierigen“ und kritischen Jugendlichen, um sie abstrafen zu können.
Der Widerstand gegen diesen Leistungsdruck hat sich im Bildungsstreik formiert, wobei jedoch sowohl die Einheit zwischen Lehrenden und SchülerInnen als auch Studierenden kaum hergestellt werden konnte und auch die generelle Selektion im Interesse der herrschenden Klasse kaum angegriffen wurde. Die Suche nach dieser Einheit ist auch deshalb vonnöten, um konservative Kräfte wie beispielsweise die Hamburger Eltern der Klein- und Großbourgeosie, die sich gerade für die weiterschreitende Eltisierung des Schulsystems einsetzten, bekämpfen zu können.
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