Beispielhaft für die Bildungsstreikbewegung wollen wir beschreiben, wie die Proteste an der Freien Universität Berlin verlaufen sind, da wir von RIO die Geschehnisse v.a. dort „live“ mitverfolgen und teilweise mitgestalten konnten und somit größeren Einblick in die Dynamik der Ereignisse hatten als anderswo – das bedeutet natürlich auch, dass dies nur ein Ausschnitt aus einer breiteren Vielfalt an Protesten ist, aber aufgrund vieler ähnlicher Berichte aus anderen Städten glauben wir, dass die Berliner Erfahrung ein Stück weit verallgemeinerbar ist:
Wie viele andere Universitäten in Deutschland und Europa wurde die FU am 11. November ohne große Vorbereitung besetzt – ausschlaggebend waren dabei eher die Besetzungen in Österreich als die laufenden Bildungsstreikvorbereitungen, die es auch gab[6]. Dies zeigte einerseits, wie akut die Probleme des Bildungssystems waren (und sind), führte aber andererseits dazu, dass es keine abgestimmten Forderungs- und Aktionspläne gab, an die die Besetzenden sich halten konnten. Hier und da wurde zwar auf die Forderungen vom Juni zurückgegriffen (die weiterhin den Tenor des Protestes darstellten), aber oftmals wurden völlig neue, riesige Forderungskataloge erstellt, die – wie im Falle der FU – mehr als 100 Forderungen enthielten und von Detail-Forderungen wie längeren Öffnungszeiten für einzelne Bibliotheken bis zur Abschaffung des Bachelor/Master-Systems reichten. Bezeichnenderweise wurde allerdings nicht die Abschaffung des Numerus Clausus gefordert, der eine der größten Hürden gegen breiteren Zugang zu höherer Bildung darstellt. Forderungen, die über die Universität hinaus gingen, gab es kaum – geschweige denn solche, die über das Bildungssystem als Ganzes hinaus gingen.
Dies war kein Versehen, wie mensch meinen könnte, sondern von einem Großteil der Besetzenden beabsichtigt: In dem Versuch, die Proteste so breit und so offen wie möglich zu gestalten, um so viele Studierende wie möglich für die Besetzung zu gewinnen, wurde ein Minimalkonsens zur Grundlage der Aktionen gemacht, der explizit nicht über den Bildungsrahmen hinausgehen sollte. Im Zuge dessen wurde verschiedenen politischen Gruppen, darunter auch RIO, die Verteilung ihres Materials zuerst im Hörsaal, dann später auch in Sichtweite des Hörsaals untersagt, damit ja kein Eindruck aufkomme, dass diese Gruppen den Protest „für sich vereinnahmen“ würden. Ebenso sollte es keine politische Werbung geben, die sich nicht auf den Bildungsstreik bezieht oder den Namen von bestimmten Gruppen trägt. Auf den Vollversammlungen war es zwar durch Redebeiträge noch möglich, Forderungen zu erheben, die den Minimalkonsens überschritten, aber der Großteil solcher Forderungen wurde immer wieder mit der Bemerkung quittiert, dass es ja „nur um die Bildung“ ginge und wir „nicht zu radikal sein“ dürften, weil wir sonst andere Studierende „abschrecken“ würden.
Dies soll nicht heißen, dass es überhaupt nicht möglich war, weitergehende politische Perspektiven aufzuzeigen – hin und wieder gab es politische Veranstaltungen im besetzten Hörsaal (u.a. von uns), die andere Perspektiven ansprachen; ebenso gab es Arbeitsgruppen (AGs), die sich um die Verbindung von Bildungsprotesten mit anderen sozialen Protesten sorgten (wie z.B. die AG Arbeitskämpfe, in der RIO mitarbeitet und die immer noch existiert[7]). Dennoch war im Kontext der Bildungsproteste an der FU eine antikapitalistische Perspektive keine Selbstverständlichkeit, sondern eher die Ausnahme.
Zu Beginn der Besetzung gab es wöchentliche Vollversammlungen und täglich mehrere Besetzungsplena, aber die Bereitschaft zur Teilnahme an beiden sank im Laufe der Zeit rapide, so dass es schlussendlich nur noch einen kleinen Kern von BesetzerInnen gab. Dies hatte unseres Erachtens mehrere Gründe: zunächst gab es von Anfang an keine klare Perspektive, wie die Ziele des Bildungsstreiks zu erreichen seien, sodass sich immer wieder von neuem die Frage stellte, wie weit die Proteste gehen dürften, und viele Diskussionen wurden hundertfach wiederholt, was die Entschlossenheit der Protestierenden schwächte – sowohl der ständigen wie auch derjenigen, die nur sporadisch vorbeischauten. Zudem war der strategische Sinn der Aufrechterhaltung der Hörsaalbesetzung eher schleierhaft: Schließlich enstanden für die Unileitung kaum Unannehmlichkeiten, und die wenigen Vorlesungen, die in den ersten Tagen durch die Besetzung ausfielen, konnten schnell verlegt werden.
Die Perspektive der Besetzung war von Anfang an eher darauf ausgelegt, eine Verhandlungslösung mit dem Uni-Präsidium zu finden, was sich vor allem daran zeigte, dass der ständig schrumpfende Kern der Bildungsstreikenden mehr und mehr dazu überging, die wenigen Kräfte auf die Abhaltung von Runden Tischen zur Erörterung von Minimalforderungen zu konzentrieren, statt die Proteste anderweitig auszudehnen.
BesetzerInnen an der Uni Stuttgart solidarisierten sich mit den Beschäftigten von Daimler in Sindelfingen, bedroht von der Verlagerung der Produktion. Sie schrieben in einer Resolution: ihr kämpft für die „Arbeitsplätze für die Beschäftigten von morgen, also für die SchülerInnen und Studierenden von heute“[8]. Ansätze für eine Ausweitung der Bildungsstreikbewegung auf die ArbeiterInnenbewegung gab es auch in der Unterstützung der Streiks der GebäudereinigerInnen und der Mensa-Beschäftigten. So konnte an einem Tag die größte Mensa der FU vollständig blockiert werden, wodurch ein enormer Schaden für die Geschäftsführung entstand[9]. Die AG Arbeitskämpfe, die diese Proteste mitorganisiert hat, entschied sich im Anschluss an die Blockade der Mensa für eine kontinuierliche Basisarbeit unter den Beschäftigten und interveniert seitdem regelmäßig mit Betriebsflugblättern und versucht, die Selbstorganisierung der Mensa-Beschäftigten voranzutreiben.
Diese Ansätze blieben aber vereinzelt, und so wurde der Bildungsstreik auch außerhalb des besetzten Hörsaals kaum wahrgenommen. Am Morgen des 14. Februar 2010 wurde der besetzte Hörsaal der FU schlussendlich geräumt[10].
Nach dem langsamen Auslaufen der Bildungsstreikproteste an der FU und auch bundesweit durch Erschöpfung und eine fehlende Perspektive waren im Vorfeld der jüngsten Bildungsstreikdemos am 9. Juni 2010 zumindest in Berlin kaum Mobilisierungsanstrengungen gemacht worden, sodass bis wenige Tage vor der Demo nicht ein einziges Mobilisierungsplakat o.Ä. zu sehen war. Dies erklärt auch, warum die Demo am 9. Juni vor allem durch SchülerInnen, die eher kurzfristig mobilisierbar sind, getragen wurde, und kaum Studierende auf der Demo anwesend waren.
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