Von Stefan Simons, Paris
Der Sturz von Tunesiens Diktator Ben Ali stürzt die französische Regierung in ein Dilemma. Jahrelang feierte Paris den Alleinherrscher als Freund, jetzt bereut Präsident Sarkozy die Lobeshymnen - und muss seinen Kurs in Nordafrika komplett überdenken.
Missverstanden fühlt sie sich, "falsch interpretiert" und - bitteschön - sie ist nachgerade "schockiert": Michèle Alliot-Marie, Frankreichs unlängst gekürte Außenministerin, gab vor dem Parlament jüngst die Rolle des unschuldigen Opfers. Der Anlass: Die Abgeordneten der Opposition hatten die Ressortchefin zu ihren Einlassungen zur den Entwicklungen in Tunesien befragt.
Denn noch am Dienstag vergangener Woche - inmitten der blutigen Revolte gegen die Herrschaft von Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali - hatte Alliot-Marie vor der Pariser Volksvertretung "Frankreichs weltweit anerkanntes ’Know-how’ unserer Sicherheitskräfte" zum Einsatz in Tunis angeboten - zur Stärkung der Regierung Ben Ali, mit der nun niemand mehr etwas zu tun haben möchte.
Die fragwürdige Offerte empörte nicht nur die politischen Gegner, auch Kabinettskollegen der umtriebigen Ministerin gingen auf Distanz. "Die ist völlig übergeschnappt", zitiert der Pariser "Canard Enchaîné" Ministerpräsident François Fillon. Und Präsident Nicolas Sarkozy grummelte angeblich: "Das sind Äußerungen, die Frankreichs Position geschwächt haben."
Doch das eigentliche Problem ist nicht das seltsame Angebot der Außenministerin. In Frage steht jetzt der außenpolitische Kurs Frankreichs in der gesamten Region Maghreb und Naher Osten, den bisher kaum jemand öffentlich in Frage gestellt hat. Während die USA schon früh Unterstützung für die Protestbewegung in Tunis signalisierten, beharrte Paris auf seiner Politik der Regimehilfe.
Vermeintliches Bollwerk gegen den Terror
Dahinter steckt eine kühle Strategie: Die Herrschaft Ben Alis, so die bisherige Lesart, sei hinzunehmen, weil sich der Diktator als Bollwerk gegen Terror und radikale Muslime bewährt habe. Auch Sozialist Dominique Strauss-Kahn, Chef des Weltwährungsfonds, behauptete einst: "Tunesien ist ein Vorbild für Entwicklungsländer." Der Verband von Frankreichs Afrika-Investoren (CIAN) pries seinerzeit die Nation "für ihre solide Wirtschaft, die einhergeht mit politischer Stabilität".
Doch Frankreichs Führung hat die Lage in Tunesien, das bis 1956 unter französischem Protektorat stand, schlicht falsch eingeschätzt. Nach dem Sturz Ben Alis steht nun die gesamte Nordafrikapolitik auf dem Prüfstand. Auf die Revolte folgten erst das schlechte Gewissen, dann die Ernüchterung und nun Gedankenspiele für eine Abkehr von der bisherigen Linie.
Oder, anders ausgedrückt, Paris legt "den Rückwärtsgang ein", so formuliert es Christian Bouquet, Afrikaexperte und Professor für Geopolitik an der Universität von Bordeaux. Den Strategen sei nun klar, dass "Frankreichs ursprünglicher Kurs den Karren vor die Wand fährt".
Sarkozys Lobeshymnen gen Tunis
Noch scheint die Angst der Regierung groß, dass es zu einem Domino-Effekt kommen könnte, der die komplette Region destabilisieren würde. Das beträfe mögliche Volksaufstände gegen die alteingesessenen Anführer vom Maghreb bis zu den Anrainern im Nahen Osten - Syrien und Ägypten inklusive.
Die Stimmen derer, die ein Umdenken und mehr Distanz von den Alleinherrschern verlangen, werden aber immer lauter, auch innerhalb der Regierungspartei. Rachida Dati, Ex-Justizministerin und Europaabgeordnete mit familiären Wurzeln im Maghreb, fordert "eine engere Verbindung mit den Völkern dort" und ein "Nachdenken über unsere Beziehungen mit diesen ländern". Man dürfe diese nicht länger auf die Themen "Bekämpfung des Terrorismus und Immigration" reduzieren.
Doch ganz so einfach wird der Kurswechsel nicht werden, das zeigt auch die bisherige ideologische Grundhaltung von Präsident Nicolas Sarkozy. Bis zum bitteren Ende hatte Frankreichs Staatschef seinem Kollegen Ben Ali in Tunis zur Seite gestanden, der die Demonstranten als "maskierte Gauner" und "feindliche Elemente" verunglimpft hatte.
Mitunter feierte Sarkozy den Dauer-Präsidenten gar als großen Demokraten: "Heutzutage nimmt die Freiheit in Tunesien mehr Raum ein", sagte er bei einem Besuch im Land 2008. Und: "Wie käme ich denn dazu, mich in einem Land, das ich als Freund besuche, zum Ratgeber aufzuschwingen."
"Bilanz der Kontraste"
Eine solch eingespielte Lesart scheint schwer zu überwinden. Noch drei Tage nach dem Sturz des Regimes in Tunis verteidigte Sarkozy seine Haltung. "Ben Ali hat für sein Volk Gutes getan, vor allem in der Wirtschaft und Ausbildung", tönte der Präsident laut "Le Parisien" vor Spitzenkadern seiner Partei. Wie nebenbei räumte er ein, Ben Ali habe allerdings bei der "Freiheit seinem Volk Grenzen gesetzt". Eine "Bilanz der Kontraste", nennt es Sarkozy. Seine eigene Fehleinschätzung rechtfertigt er so: "Wir haben mit Tunis staatliche Beziehungen, und man kann ja nicht jedes Mal, wenn es soziale Bewegungen in einem Land gibt, den Rücktritt der entsprechenden Führer fordern."
Da ist es vermutlich auch zu viel verlangt, eine öffentliche Abkehr Sarkozys von den Fehlern von gestern zu erwarten. Für das große "Mea culpa" schickte er daher seinen persönlichen Berater Henri Guaino vor die Mikrofone. Dieser gestand zerknirscht "Fehler" Frankreichs ein und sprach von "Ungeschicklichkeiten und Unverständnis". Diesen Schlingerkurs kommentierte die linke Pariser Tageszeitung "Libération" mit hämischem Unterton: "Von einem auf den anderen Tag aus dem totalen Beistand für eine Diktatur hinüberwechseln zur Unterstützung einer nachfolgenden demokratischen Bewegung - das ist kein leichtes Unterfangen."
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