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ArbeiterInnenkontrolle als Antwort auf die Krise
von : RIO | Revolutionären Internationalistischen Organisation, Deutschland , Markus Oliver

10 May 2012 | Die Folgen der Weltwirtschaftskrise bekommt die lohnabhängige Bevölkerung Griechenlands in besonderem Ausmaß zu spüren.

von Markus Oliver

Die Folgen der Weltwirtschaftskrise bekommt die lohnabhängige Bevölkerung Griechenlands in besonderem Ausmaß zu spüren. Hunderttausende GriechInnen wurden in den letzten Jahren entlassen, und die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen liegt bei knapp 50%. Die Obdachlosigkeit steigt und Suppenküchen breiten sich im ganzen Land aus. Doch auch wenn viel von „Hilfe“ und „Solidarität“ die Rede ist, bieten bürgerliche und reformistische PolitikerInnen keine Perspektive an, um aus diesem Elend wieder herauszukommen. Die Gewerkschaftsbürokratie ruft immer wieder zu eintägigen Generalstreiks auf, während die parlamentarische Linke über einen Ausstieg aus dem Euro diskutiert. Doch auch diese scheinbar radikalen lösungen bieten keinen Ausweg aus der Krise.

Die Einschnitte, die der griechischen ArbeiterInnenklasse zugemutet werden, sind so groß, dass diese bald wirklich „nichts zu verlieren [hat], als ihre Ketten“ (wie Marx es im Kommunistischen Manifest formulierte). Dagegen haben griechischen KapitalistInnen ihre Euro-Milliarden längst auf Schweizer Konten transferiert. Doch während sich SoziologInnen hierzulande noch über dessen bloße Existenz streiten, beweist das Proletariat eines Krankenhauses in der nordgriechischen Stadt Kilkis bereits das enorme Potential seiner Klasse: Anfang Februar wurde das Krankenhaus offiziell unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt.

Im Rahmen der starken sozialen Angriffe in Griechenland werden auch massive Kürzungen im Gesundheitssystem durchgeführt. Der kühne Schritt der Kilkiser Krankenhaus-ArbeiterInnen ist ein erster Ansatz einer proletarischen Antwort auf die kapitalistische Krise und gegen die bürgerlichen „lösungen“. Mit der Entscheidung, die Instandhaltung des Krankenhauses, die medizinische Versorgung der PatientInnen und damit die eigenen Arbeits- und Produktionsbedingungen unter die eigene Kontrolle zu nehmen, stellen die Beschäftigten die herrschenden Eigentumsverhältnisse offen in Frage.

Im Kapitalismus sind Milliarden von Menschen zur Lohnarbeit gezwungen. Obwohl sie in Form gesamtgesellschaftlicher Arbeitsteilung alle materiellen Reichtümer selbst produzieren, sichert das Privateigentum an Produktionsmitteln einer schmalen Klasse von KapitalistInnen alle Verfügungsgewalt über und fast allen Gewinn aus den erarbeiteten Waren. Während die Vorteile alle in privater Hand liegen, werden die Kosten jeder wirtschaftlichen Krise den Schultern der lohnabhängigen Bevölkerung aufgebürdet.

In Griechenland tritt dieses kapitalistische Ìbel gegenwärtig in krassester Form ans Tageslicht. Darauf antworten die Kilkiser Beschäftigten nun mit ihrer Initiative der ArbeiterInnenkontrolle und einem kämpferischen Aufruf an die gesamte ArbeiterInnenklasse, es ihnen gleich zu tun[1]. Damit treffen sie auf offene Ohren. So auch bei den Beschäftigten der Tageszeitung Eleftherotypia, die sich seit Dezember im Streik befinden. Mit der Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen den über 800 Beschäftigten und den EigentümerInnen einer der größten griechischen Tageszeitungen, entwickelte die Belegschaft regelmäßige Streikversammlungen als höchstem Entscheidungsorgan der untereinander gleichberechtigten Reinigungskräfte, JournalistInnen und DruckerInnen. Bei diesen Versammlungen wird ein 15-Köpfiger Rat mit festem und jederzeit widerrufbarem Mandat gewählt, um die getroffenen Entscheidungen durchzusetzen. Die wohl Wichtigste unter diesen war die Herausgabe einer Streikzeitung unter eigener Regie zur finanziellen und politischen Unterstützung der Streikenden. Die erste Ausgabe von „Die ArbeiterInnen (von Eleftherotypia)“ verkaufte sich ohne Nutzung der unternehmenseigenen Werbestrukturen dafür aber dank Solidaritätsnetzwerken öfter als jede andere Zeitung Griechenlands.

Seitdem erblickte nicht nur eine zweite Ausgabe das Tageslicht, sondern auch Debatten über die generelle Wiederaufnahme der Zeitungsproduktion unter ArbeiterInnenkontrolle. Dieses Vorgehen stand nicht etwa von vornherein fest, sondern führte innerhalb der Belegschaft zu intensiven Diskussionen, welche aber durch die extremen Erfahrungen der Krise und der Angriffe durch die Geschäftsführung einen immer radikaleren Verlauf nahmen. Diese beiden Beispiele zeigen in kleinen Ansätzen, wie die Produktionsmittel in Griechenland im Interesse der Bevölkerung eingesetzt werden können – indem die Kontrolle der KapitalistInnen durch die demokratische Verwaltung der Beschäftigten ersetzt wird. ArbeiterInnenkontrolle kann auch bei partiellen Maßnahmen wie der Kontrolle über die Arbeitsbedingungen oder der Öffnung der Geschäftsbücher beginnen, doch selbst diese partiellen Maßnahmen spitzen,die Frage zu, wer den gesamten Produktionsprozess kontrolliert.
Eine Perspektive für ganz Europa

Um frühere Versuche der ArbeiterInnenkontrolle in Europa zu finden, muss man nicht erst bis zur Oktoberrevolution von 1917 zurück gehen. Erst 2010 produzierten ArbeiterInnen einer Philips-Fabrik im französischen Dreux für zehn Tage unter ArbeiterInnenkontrolle, bis die besitzenden KapitalistInnen und die französische Regierung ihren Widerstand brachen[2]. In der thüringischen Fahrradfabrik „Bike Systems“ wurden 2007 am Ende eines Arbeitskampfes von 115 Tagen 1.800 knallrote „Strike Bikes“ unter Selbstverwaltung hergestellt[3].

In Griechenland besitzen die jetzigen Versuche der Erkämpfung von ArbeiterInnenkontrolle jedoch ein weitaus größeres Potential. Während Massendemonstrationen die großen Plätze der griechischen Städte wiederholt lahmlegen, stärken immer wiederkehrende Streiks der griechischen ArbeiterInnenklasse ihren Rücken. In dieser zugespitzten Situation, die am Ende von 30 Jahren bürgerlicher Restauration („Neoliberalismus“) stehen, bedeutet die Perspektive der ArbeiterInnenkontrolle einen enormen Sprung vorwärts in der ideologischen Bewegung des Proletariats. Dieser Sprung kam vor allem durch den steigenden Druck zustande, dem die griechische ArbeiterInnenklasse nun seit mehreren Jahren der Krise ausgesetzt ist. Die Angst vor vollständiger Verelendung lässt auch radikale Maßnahmen als notwendig erscheinen. Völlig zurecht, denn nur die Enteignung der Produktionsmittel unter ArbeiterInnenkontrolle kann die wachsende Misere in Griechenland noch aufhalten. Dies muss aber auch mit der Verstaatlichung des Bankwesens und des Außenhandels unter ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden, also mit einer Perspektive der Ìbernahme und Verwaltung der kompletten Wirtschaft durch die ProduzentInnen, mit einer Regierung der ArbeiterInnen an der Spitze.

Nach unserer Meinung müssen revolutionäre AktivistInnen das enorme Potential der ArbeiterInnenkontrolle anerkennen und für diese Maßnahme im Rahmen eines Programms von Ìbergangsforderungen kämpfen. Als sympathisierende Sektion der Trotzkistischen Fraktion (FT-CI) verfolgen wir von RIO eine Politik, die wir als sowjetische Strategie[4] bezeichnen, die die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen als bestes Mittel einer politischen Bewusstseinssteigerung in den Mittelpunkt stellt. In Zeiten wirtschaftlicher Krise beginnen selbst die elementarsten Forderungen der ArbeiterInnen in Griechenland und anderen Wirtschaftsräumen Südeuropas an die Grenzen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu stoßen, wie es bereits der Revolutionär Leo Trotzki im 1938 verfassten „Ìbergangsprogramm“ beschrieb, das eine Brücke zwischen den Tagesforderungen der ArbeiterInnenbewegung und dem Ziel der sozialistischen Weltrevolution herstellen soll. Die Beschäftigten von Kilkis haben bereits einen großen Schritt getan, sollte jedoch eine so bedeutende Fabrik, wie Hellenic Steel – ein Stahlwerk, das sich seit sechs Monaten im Streik befindet – den Sprung zur Enteignung unter ArbeiterInnenkontrolle wagen, wäre dies ein weit ausstrahlendes Symbol einer fortschrittlichen (und auch realistischen) Perspektive. Oder wie es ein Stahlarbeiter dieser Fabrik bei einer Solidaritätsveranstaltung in Berlin formulierte: „Macht ganz Europa zu einem griechischen Stahlwerk!“
Nur der erste Schritt

Ein bereits fortgeschritteneres Beispiel für proletarische Selbstverwaltung ist die inzwischen zu weltweiter Berühmtheit gelangte Fabrik Zanon in Argentinien. Wie viele andere Fabriken wurde auch sie während der revolutionären Tage der Wirtschaftskrise von 2001 besetzt. Durch die kontinuierliche Intervention der argentinischen PTS (Partei sozialistischer ArbeiterInnen, Schwesterorganisation von RIO), basierend auf dem Ìbergangsprogramm, entwickelte sich der Arbeitskampf in der Keramikfabrik jedoch in besonderem Maße weiter. So führte er über symbolische, juristische und physische Auseinandersetzungen schließlich zur Enteignung des Unternehmers durch die Belegschaft. Heute gehört die Fabrik der GenossInnenschaft FaSinPat („Fabrica Sin Patrones“, Fabrik Ohne UnternehmerInnen). Die Arbeitsplätze konnten inzwischen bei steigenden löhnen ausgeweitet werden. Das Einzige, was einen Rückgang erlebte, waren die Arbeitsunfälle[5].

Doch allein ist sie trotz ArbeiterInnenkontrolle auf lange Sicht verloren, denn sie ist keine „sozialistische Insel“, die sich den Zwängen des Kapitalismus entziehen kann. Mit jedem neuen Einkauf von zu verarbeitenden Rohstoffen spürt die Belegschaft die allgemeine Teuerung. Mit der Verarmung anderer verringert sich auch für Zanon der Absatz. Früher oder später wird die kapitalistische Konkurrenz dazu führen, dass auch den wöchentlichen Hauptversammlungen der Belegschaft nichts anderes übrig bleiben wird, als sich selbst demokratisch den Lohn zu kürzen.

Die ArbeiterInnenkontrolle kann also nur ein erster Schritt auf dem Weg zu neuen Eigentumsverhältnissen sein. Die Gründung von Genossenschaften oder die Einrichtung partieller ArbeiterInnenkontrolle können richtige und notwendige Schritte auf diesem Weg sein – aber sie dürfen keinesfalls stehen bleiben und riskieren, dass kämpferische Belegschaften sich wieder ins bestehende System integrieren lassen. Jede eroberte Fabrik und jeder besetzte Betrieb muss stattdessen als eine Bastion im internationalen Klassenkampf genutzt werden. Dieser Klassenkampf kann aber nicht durch eine rein quantitative Ausweitung von ArbeiterInnenkontrolle gewonnen werden. Die Wirtschaft wird nicht ohne direkte Konfrontation mit der Bourgeoisie übernommen werden können. Keine herrschende Klasse hat ihre Macht jemals friedlich abgegeben. Selbst der hochverschuldete Adel zwang das reiche Bürgertum zum blutigen Kampf. Als die ArbeiterInnenbewegung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu revolutionärer Reife gelangte, scheute die kapitalistische Reaktion nicht vor der Entfesselung des Faschismus zurück, um jegliche Formen der ArbeiterInnendemokratie zu zerschlagen.

Um der kapitalistischen Krise eine sozialistische Perspektive entgegen zu stellen, bedarf es einer Politik, die klassenkämpferische Erfahrungen, wie die der ArbeiterInnenkontrolle, in Richtung der revolutionären Eroberung der politischen Macht weiterentwickelt. Die Radikalisierung solcher Arbeitskämpfe wird unweigerlich auf den geballten Widerstand des kapitalistischen Staates treffen. Deshalb benötigt es einer politischen Perspektive, über die sich Fabrikkomitees in besetzten Fabriken zu Räten weiterentwickeln können, die untereinander vernetzt eine kämpferische Grundstruktur einer neuen Gesellschaftsordnung bilden können: Einem rätedemokratischen ArbeiterInnenstaat, in dem die gesamte Wirtschaft unter die demokratische Kontrolle der heute lohnabhängigen Bevölkerung gestellt wird. Diese Umgestaltung kann aber nicht in einem einzigen Land vollzogen werden, sondern nur als Teil der sozialistischen Weltrevolution, also der Enteignung des Kapitals auf weltweiter Ebene.

Solche Politik kann nur verwirklicht werden, wenn der organisierten und bewaffneten Reaktion eine ebenfalls organisierte Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, bestehend aus den kämpferischsten und politisch bewusstesten Sektoren des Proletariats, entgegentritt. Diese Organisation muss sich in der Form einer wiederaufgebauten Vierten Internationale niederschlagen. Zu diesem Aufbau wollen wir von RIO als sympathisierender Sektion der Trotzkistischen Fraktion einen Beitrag leisten.

 

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