I. Die politische Dimension der weltweiten kapitalistischen Krise
Die internationale kapitalistische Krise, die bereits seit fünf Jahren anhält, setzte dem bürgerlichen Triumphalismus, der die neoliberale Offensive begleitete, ein Ende. Die ApologetInnen des Kapitalismus, die versicherten, dass diese eine weitere zyklische Krise sei, aus der man einfach herauskommen würde, haben hierzu keine Grundlage mehr. Es ist schon eine Tatsache, dass die Große Rezession, die ihr Epizentrum in den entwickelten ländern – den USA und der Europäischen Union – hat, auch die so genannten „Schwellenländer“ erreicht hat, mit der Verlangsamung des Wachstums in China und dem Stillstand in Indien und Brasilien. Auch wenn die Bourgeoisie die Kontrolle über die Krise bisher nicht vollständig verloren hat, erschöpfen sich die Mechanismen, mit denen diese verwaltet wird. Die getroffenen Maßnahmen – wie die Rettungsaktionen der Europäischen Zentralbank (EZB) für die verschuldeten länder – werden teurer aber gleichzeitig weniger effektiv, was die Wirtschaft immer wieder an den Rand des Abgrunds drängt.
Die gegenwärtige Krise kann nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet werden, denn ihre Entwicklung hat politische Konturen gewonnen. Vor allem führt sie zu einer neuen, heterogenen aber nachhaltigen Geographie des Klassenkampfes.
Wie wir in einem anderen Artikel argumentieren[1], lässt die kapitalistische Krise die Geopolitik der Nachkriegszeit knirschen, vor allem die Struktur, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der stalinistischen Regime Osteuropas aufgebaut wurde. Insbesondere stellt sie die Kontinuität der Europäischen Union, wie sie bisher konstituiert war, in Frage – eins der ehrgeizigsten Projekte der Bourgeoisie in der Zeit nach dem Kalten Krieg, mit dem sie versuchte, die Widersprüche im Zaum zu halten, die zu nichts weniger als zwei Weltkriegen im letzten Jahrhundert geführt hatten. Seit dem Anfang des EU-Projektes haben wir MarxistInnen darauf hingewiesen, dass die Dynamik der europäischen Einheit mit den unüberwindbaren Grenzen zusammenstößt, die die Interessen der imperialistischen Bourgeoisien bilden. Aus diesem Grund war diesem Block die Verwandlung in einen supranationalen Staat unmöglich. Die Krise hat diese objektive Grenze im Aufbau des europäischen imperialistischen Projektes mit aller Klarheit gezeigt. Deutlich wurde es in der Spannung zwischen der Konsolidierung einer hegemonialen deutschen Führung auf der einen Seite, welche durch den Umbau der EU im Sinne ihrer Interessen und das Voranschreiten der Halbkolonialisierung der peripheren länder wie Griechenland und Portugal vollzogen werden sollte, und dem tendenziellen Zerfall des Euros auf der anderen Seite. Diese Entwicklungen geschehen auch wenn Merkel und die europäische Bourgeoisie die Einheitswährung retten möchten. Die USA, das andere Epizentrum der Krise, behält immer noch ihre Rolle als wichtigste imperialistische Macht, aber unter Obama konnte sie den Niedergang ihrer Hegemonie nicht aufhalten. Dies wurde durch die Niederlage der militaristischen Strategie von Bush vertieft, die zu den misslungenen Besetzungen des Iraks und Afghanistans führte und mit der Stärkung des Iran als Regionalmacht endete. Nach dem Verlust von wichtigsten Verbündeten im Zuge des „arabischen Frühlings“, besteht die Politik der USA darin, die Karte ihrer Herrschaft im Nahen Osten neu zu zeichnen. Sie manipuliert den Kampf gegen die Diktatur von Al Assad in Syrien in ihrem Sinne, um einen „Regimewechsel“ herbeizuführen. Auf diese Art sollen der Iran und die Hisbollah isoliert und regionale Verbündete wie die Türkei gestärkt werden. Letztere ist für die USA ein Modell für die Regime, die den arabischen Diktaturen folgen sollen. Bei dieser Strategie kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Sorge um eine Gewaltspirale im Nahen Osten dazu führt, dass Saudi Arabien am Ende von einem Sturz Assads profitieren würde.
Der Niedergang der Hegemonie der USA drückt sich auch im Aufstieg von Regionalmächten wie China, Indien, Russland und Brasilien aus (JournalistInnen verwenden die Kürzel BRIC dafür, auch wenn sie keinen homogen Block bilden und auch nicht den gleichen Einfluss auf die globale Entwicklung haben). Russland und China beispielsweise blockieren oft die Politik der USA indem sie sich in der UNO weigern, Sanktionen und einer militärischen Intervention in Syrien zuzustimmen.
Bis jetzt gibt es keine traditionellen imperialistischen Mächte, und schon gar keine Schwellenländer wie China, die in der Lage wären, den USA ihre weltweite Macht streitig zu machen. Doch dies ist nicht gleichbedeutend mit harmonischen Beziehungen. Hinter den Streitigkeiten zwischen den USA und Deutschland und den Spannungen innerhalb der EU lässt sich eine Auseinandersetzung um die Frage erahnen, wer die Kosten der Krise zahlen wird. Diese Auseinandersetzungen werden sich vertiefen und die Umrisse der Weltpolitik und -wirtschaft färben.
Polarisierung und politische Krise in den zentralen ländern
Die politische Dimension der kapitalistischen Krise offenbart sich in kapitalistischen Zentren, vor allem in den am schwersten betroffenen EU-ländern wie Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Sie sollen im Rahmen eines anhaltenden Widerstandes der Massen (der allerdings noch nicht radikalisiert ist) drakonische Maßnahmen durchführen, um Geldmittel zu bekommen und ihre GläubigerInnen auszuzahlen.
In Europa gab es seit 2009 den Sturz oder die Umbildung von 19 Regierungen, sowohl sozialdemokratische wie konservative. Diese setzten Sparpläne um, entweder im Rahmen von der Troika (EU, EZB und IWF) diktierten Bedingungen, um Zugang zu finanziellen Rettungsaktionen zu bekommen, oder als vorbeugende Maßnahmen gegen die Auswirkungen der wirtschaftlichen Rezession. Der Hintergrund dieser Situation ist die intensive soziale Polarisierung, der tiefe Prestigeverlust der traditionellen Parteien, mit denen die imperialistische Bourgeoise regierte – die Tariq Ali als „extreme Mitte“ bezeichnet[2] – und eine Tendenz zur Abnutzung der parlamentarischen und bürgerlich-demokratischen Mechanismen, da in Zeiten der Krise der despotische Charakter der Herrschaft des Kapitals stärker zu Tage tritt.
Dies versinnbildlicht die Parole „Sie vertreten uns nicht“ von Hunderttausenden jungen „Empörten“ im Spanischen Staat, die ähnliche Proteste in anderen ländern wie Griechenland inspirierten. Aus der Sicht des bürgerlichen Regimes drückt sich diese Krise in der Tendenz zur offenen Herrschaft von nicht gewählten kapitalistischen Institutionen aus, wie der Europäische Rat, unter dem starken Einfluss Merkels, oder die Europäische Zentralbank. Sie wollen Diktate durchsetzen, welche die „nationale Souveränität“ der verschuldeten Staaten teilweise untergraben, indem sie die Kontrolle über öffentliche Ausgaben und nationale Haushalte beanspruchen – wie es der IWF mit halbkolonialen ländern Lateinamerikas machte – und Entscheidungen über das Leben von Millionen Menschen treffen, die drastische Auswirkungen auf die Lebensqualität haben.
Die Krise führte auch zum Aufkommen von anfänglichen bonapartistischen Tendenzen mit der Bildung von „technischen Regierungen“ oder der „nationalen Einheit“ von Papadimos in Griechenland (zwischen November 2011 und Juni 2012) und von Monti in Italien (noch an der Macht). Diese „Koalitionsregierungen“ sind ein „Anfangsgrad von Cäsarismus“, um die Kategorie von A. Gramsci zu verwenden, das heißt, eine instabile, „willkürliche lösung“, auf die die politischen VertreterInnen des Großkapitals zurückgreifen, um sich über die tiefen sozialen Widersprüche zu stellen, auch wenn es noch nicht zu entscheidenden Auseinandersetzungen zwischen den Klassen gekommen ist.
Das heißt nicht, dass die Situation einen solchen Grad an Schärfe gewonnen habe, dass sie den Aufstieg bonapartistischer Regime in mehr oder weniger verallgemeinerter Form als unmittelbare Perspektive erfordert. In diesem Sinne ist die Beschreibung von S. Kouvelakis zutreffend, der sagt, diese großen Koalitionen „verbinden die wirtschaftlichen und sektoralen Interessen der herrschenden Klasse direkt mit Fraktionen der politischen Elite, die ihre frühere Parteibindungen gelockert haben“, die jedoch, im Unterschied zum klassischen Bonapartismus, nicht explizit mit dem parlamentarischen Rahmen brechen[3].
Im Moment, trotz der Krise ihrer Parteien und der seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellosen wirtschaftlichen Entbehrungen, sucht die Bourgeoisie Legitimität für ihre Regierungen über Wahlen. Selbst um den Preis, dass der Bankrott der bürgerlichen Parteien offensichtlich wird, wie in Griechenland. Noch funktioniert die Abwechslung an der Regierung zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, und wo die Situation es erlaubt, bewahren letztere noch eine gewisse Kapazität, um sich in den Ausdruck des Unmuts an der Wahlurne zu verwandeln, auch wenn sie einen Diskurs haben, der sich kaum von den Sparvorgaben abgrenzt, wie wir es beim Sieg von F. Hollande und der PS in den letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich gesehen haben. Doch wie die Erfahrung der 30er Jahre zeigt, sobald sich die Krise und die Klassenauseinandersetzungen verschärfen, wird die Bourgeoisie offener auf Herrschaftsmechanismen zurückgreifen müssen, die in normalen Zeiten außerordentlich wären, wie der Bonapartismus und – sollten sich revolutionäre Prozesse entwickeln – die Volksfront und der Faschismus.
Als Produkt der sozialen Polarisierung und der Krise der traditionellen Parteien der bürgerlichen Mitte haben sich verschiedene Arten der xenophoben und fremdenfeindlichen extremen Rechten gestärkt, entweder direkt als Neonazis, wie im Fall der Goldenen Morgenröte in Griechenland, oder mit einem populistischeren Charakter, wie die „Front Nationale“ in Frankreich. Diese Rechten Demagogen propagieren „Souveränität“ oder Protektionismus gegenüber der Offensive des deutschen Imperialismus, der die schwächsten Staaten der EU zunehmend von sich abhängig macht. Die Entwicklung dieser extremen Rechten ist nicht neu, sie haben schon an Koalitionsregierungen teilgenommen, wie in Österreich und in den Niederlanden, und ihr politischer Einfluss zeigt sich darin, dass Teile ihrer Programme von Regierungen verschiedenster Couleur als Teil ihrer „Sicherheitspolitik“ umgesetzt wurden, die den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit stärken. Doch die kapitalistische Krise gibt diesen bereits existierenden Phänomenen eine neue Bedeutung. In diesem Sinn zeigen die Neonazi-Tendenzen, dass die Stoßtrupps der Bourgeoisie entwickelt werden, die heute gegen ImmigrantInnen und, in geringerem Ausmaß, gegen die Linke gelenkt werden, die aber, sollte sich die Krise entwickeln und sich der Klassenkampf radikalisieren, gegen die ArbeiterInnenorganisationen und die Massenbewegung eingesetzt werden.
Die Kehrseite dieser Stärkung der extremen Rechten ist die Entstehung von verschiedenen Arten des linken Reformismus, wie die Front de Gauche in Frankreich und SYRIZA in Griechenland, die als ein großes Wahlphänomen angesichts der Krise der zwei traditionellen Parteien PASOK und Nea Demokratia aufkamen.
Die Mehrheit der europäischen Linken, einschließlich SYRIZA, hat eine Politik der Anpassung an den Rahmen der Europäischen Union, die die Interessen des Europas des Kapitals zum Ausdruck bringt. Währenddessen verfolgen kleinere Sektoren der Linken, wie die Kommunistische Partei Griechenlands, eine Politik der „Souveränität“, mit der Illusion, dass es eine „national-kapitalistische“ lösung zum Vorteil der ArbeiterInnen außerhalb der EU geben könnte. Diese Verteidigung des Nationalstaates ist eine Achse des Programms der extremen Rechten. Gegen diese Varianten ist es notwendig, entschieden zu erklären, dass der Kampf gegen die Sparregierungen und die Institutionen der imperialistischen Europäischen Union mit der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa geführt werden muss.
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In den USA drückte sich die politische Polarisierung und die Krise des Zwei-Parteien-Systems zuerst auf der rechten Seite mit dem Aufkommen der Tea Party[4] und dann auf der linken Seite mit dem Aufbruch der Occupy-Bewegung aus. Diese repräsentierte, wie wir weiter unten argumentieren werden, mit ihrer Parole der „99% gegen das 1%“ einen gewissen ideologischen Fortschritt im Vergleich zu ihrer unmittelbaren Vorgängerin der globalisierungskritischen Bewegung. Sie stellte die Konfrontation mit den Reichen in den Mittelpunkt ihres Kampfes, auch wenn dies nicht bedeutet, dass sie eine klar antikapitalistische Perspektive aufgenommen hat, was sich an den vielen Stimmen für Obama als kleineres Ìbel zeigte.
Mit der Tea Party, die eine fundamentale Rolle beim republikanischen Sieg in den Kongresswahlen von 2010 spielte, verstärken sich die rechtesten Sektoren der republikanischen Partei, die den von den DemokratInnen angebotenen Konsens bei entscheidenden Themen nicht akzeptieren, wie zum Beispiel im Fall der Anhebung der Schuldengrenze. Dies machte deren Verabschiedung sehr teuer und die Glaubhaftigkeit des US-amerikanischen politischen Systems wurde in Frage gestellt.
Im Vergleich zu seinen europäischen KollegInnen hat Obama den Vorteil, dass der Klassenkampf weiterhin der rückständigste Faktor in der politischen Situation ist. Diese bleibt weiterhin ausschließlich vom Wahlkampf zwischen DemokratInnen und RepublikanerInnen geprägt, obwohl es Unmut wegen der Krise und einer unverschämten sozialen Ungleichheit gibt. Dieses sehr niedrige Klassenkampfniveau resultiert aus einer Kombination von verschiedenen Elementen, darunter: die Zusammenarbeit der Gewerkschaftsbürokratie mit den UnternehmerInnen und der Regierung bei Restrukturierungen, um einige Errungenschaften von ArbeiterInnen mit dem größten Dienstalter zu erhalten. Ein weiterer Grund ist der niedrige Organisationsgrad von 11,8% der Lohnabhängigen, 37% im öffentlichen und gerade einmal 6,9% im privaten Sektor[5]. Die ArbeiterInnen des öffentlichen Sektors erlitten eine wichtige Niederlage in Wisconsin, nachdem die Regierung gewerkschaftsfeindliche Gesetzte verabschiedete, die die Tarifverhandlungen abshafften. Außerdem ging der republikanische Gouverneur gestärkt aus dem Abwahlreferendum hervor, das die Gewerkschaften zusammen mit der Demokratischen Partei angestoßen hatten. Diese führten den Kampf in eine katastrophale Niederlage.
Nichtsdestotrotz haben die Zerbrechlichkeit des Wirtschaftswachstums, die anhaltende Arbeitslosigkeit und die soziale Krise[6], die im Kontrast zu den millionenstarken Profiten der großen Konzerne steht, und im geringeren Maße auch die Außenpolitik, die in die Fußstapfen von Bush tritt, die politische Glaubwürdigkeit von Obama abgenutzt. Er hat zunehmend Schwierigkeiten, seine Wiederwahl zu sichern, obwohl sein republikanischer Herausforderer, der Multimillionär Mitt Romney (ein klarer Vertreter der „1%“), mit seinem rechten Programm und seinem konservativen Vizekandidaten Paul Ryan eine wenig attraktive Alternative darstellt.
Wenn es heute irgendeine Möglichkeit gibt, dass Romney die Wahl gewinnt, dann ist das auf die Enttäuschung von progressiven Sektoren mit Obama zurückzuführen, die heute mehrheitlich zur Bewegung Occupy Wall Street gehören. In diesem Sinn sollten wir das Aufkommen dieses jugendlichen politischen Phänomens als einen Vorgriff auf intensivere Klassenkampfprozesse sehen, die sich sehr wahrscheinlich in der kommenden Periode entwickeln werden.
China. Soziale Spannungen und Risse in der Bürokratie der KPCh
Die Phänomene von politischer Krise und sozialen Konflikten gibt es nicht nur in den ländern, die sich im Auge des Sturms befinden. In China haben die Auswirkungen des verlangsamten Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren zu einer Reaktivierung des Klassenkampfes geführt. Laut einer Studie der Chinese Academy of Governance verdoppelte sich die Zahl der Proteste zwischen 2006 und 2010, und erreichte 180.000 registrierte „Massenvorfälle“. An diesen Vorfällen sind einige Dutzend bis viele Tausend Menschen beteiligt, und sie sind Ausdruck einer großen Vielfalt von Problemen. Das zeigen Streiks und Arbeitskämpfe[7] wegen löhnen, unmenschlicher Arbeitsbedingungen oder Entlassungen und Forderungen nach regionaler Autonomie und bezüglich Umweltproblemen. Viele dieser Demonstrationen werden gewalttätig, beinhalten Blockaden und Besetzungen öffentlicher Gebäude und können mehrere Tage dauern.
Diese Aktionen zeigen das Aufkommen eines neues Proletariats migrantischer Herkunft[8], das aus Jugendlichen, die in den 80er und 90er Jahren geboren wurden, zusammengesetzt ist, mit besserer Bildung und größeren Ambitionen als ihre Eltern, konzentriert in großen, modernen Industrieunternehmen. Laut einer Studie von China Labour Bulletin hat dieser demographische Wandel des letzten Jahrzehnts angefangen, „den Arbeitern größere Verhandlungsmacht an den Arbeitsplätzen zu geben. Sie fühlen sich entschlossener, ihre Beschwerden mit ihren UnternehmerInnen zu diskutieren, und für bessere löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Vor allem die jüngsten ArbeiterInnen haben größeres Vertrauen in ihre Fähigkeiten, Streiks und Proteste zu organisieren“[9] und es gibt sogar Fortschritte auf dem Gebiet der von der offiziellen Bürokratie unabhängigen gewerkschaftlichen Organisierung.
Im Rahmen dieser wachsenden sozialen Spannung und des Führungswechsels, der beim 18. Kongress der Kommunistischen Partei im Oktober 2012 vollzogen werden soll, entwickelt sich innerhalb des KPCh-Apparats ein Kampf zwischen „reformistischen“ Strömungen (die momentan die Führung innehaben) und „konservativen“, der einen öffentlichen Ausdruck im Skandal um die Absetzung und den späteren Ausschluss von Bo Xilai hatte, der Generalsekretär der Partei in Chongqing, der als „Neo-Maoist“[10] galt, und die Festnahme seiner Ehefrau, die des Mordes an einem britischen Unternehmer angeklagt wurde, mit dem sie Geschäfte gemacht hatte. Die „neo-maoistische“ Strömung forderte keine „Rückkehr zum Sozialismus“, wie einige AnalystInnen sagen, aber eine größere staatliche Intervention und stärkere Kontrolle durch die Partei, d.h. eine populistische Politik mit kapitalistischem Inhalt, obwohl sie in einem symbolischen Sinn an eine gewisse maoistische Ikonographie appellierte. Daraufhin agitierte die aktuelle Führung der KPCh gegen die Gefahr einer Rückkehr der „Kulturrevolution“, die die wirtschaftliche und politische Struktur bedrohen würde, die seit der Epoche von Deng Xiaoping aufgebaut wurde.
Die regierende Bürokratie setzt sich mit dieser Situation auseinander, indem sie der Maxime von Deng Xiaoping folgt: vor allem die politische Stabilität aufrechterhalten, was die Einheit der Partei und die Eindämmung des sozialen Protestes erfordert. Sie kombiniert die Repression und die autoritäre Kontrolle mit einigen Zugeständnissen. Die „Bo Xilai-Affäre“ endete mit einem Sieg des Flügels, der auf dem Weg der kapitalistischen Reformen weiter voranschreitet. Allerdings war dies eine Schlacht, die nur schwer die Risse innerhalb der Bürokratie wieder schließen kann. Dies wird umso schwerer, falls die wirtschaftlichen Aussichten schwieriger werden.
Vorbereitende Phänomene in Lateinamerika
In Lateinamerika sind die Auswirkungen der Krise schwächer und offenbaren sich in ungleicher Weise. Dies aufgrund der weiterhin astronomisch hohen Preise der wichtigsten Güter, die die verschiedenen länder des Kontinents exportieren, was momentan eine schwindende wirtschaftliche Dynamik abfedert. Der regionale Block ALBA ist Mitte der 200er Jahre als ein ehrgeiziges Projekt der Ausdehnung des chavistischen Einflusses auf den Kontinent auf der Basis des hohen Ölpreises entstanden. Er verliert seit dem Putsch in Honduras und der Konsolidierung der brasilianischen Hegemonie als Regionalmacht wieder an Boden. Brasilien versucht zwischen ihren Interessen und denen des US-Imperialismus zu vermitteln.
Die wirtschaftliche Allianz zwischen Brasilien und Argentinien, den Kernländern des südamerikanischen Gemeinschaftsmarkts Mercosur, ist weiterhin die Hauptorientierung beider Bourgeoisien und stellt ein wichtiges Geschäft für transnationale Konzerne dar. Dies ist trotz einiger Spannungen der Fall, die in den letzten Monaten aus protektionistischen Maßnahmen beider Regierungen, insbesondere seitens der argentinischen Regierung, entstanden waren. Außerdem eröffnet die Aufnahme Venezuelas in den Mercosur neue Möglichkeiten für argentinische und brasilianische Geschäfte. Dies wurde durch die temporäre Suspendierung Paraguays möglich, das diese Aufnahme blockiert hatte. Die Aufnahme Venezuelas macht auch den Mercosur insgesamt interessanter, da diese einen „gemeinsamen Markt mit einem BIP von 3,3 Mrd. Dollar und fast 270 Millionen Einwohnern“[11] schaffen würde. Damit wäre dieser Block die fünftgrößte Weltwirtschaft und würde auch die venezolanischen Ölreserven beinhalteten.
Unter diesen Bedingungen überwiegen immer noch reformistische Illusionen innerhalb der Massenbewegungen, und der Klassenkampf steht nicht so im Zentrum, wie dies zum Beginn dieses Jahrtausends der Fall war. Allerdings darf man die Möglichkeit einer noch katastrophaleren Wende auf internationaler Ebene nicht aus den Augen verlieren, durch welche sich die Situation auf dem Kontinent drastisch verändern könnte.
Hierfür brächte die ArbeiterInnenklasse und die ausgebeuteten Massen Lateinamerikas eine wichtige Kampferfahrung mit, die sie in den Massenaufständen und den Tendenzen zur direkten Aktion gegen die neoliberalen Regierungen der 1990er Jahre erlernt haben.
Die Phänomene des Kampfes, wie die beeindruckende Mobilisierung der Studierenden und der Jugend in Chile oder die Entstehung der „#yosoy132“-Bewegung in Mexiko in Mitten der Wahlen, sowie die Elemente politischer Krisen vor allem der Regierungen, die zu Beginn der 2000er durch eine Kanalisierung der Tendenz zur direkten Aktion an die Macht kamen, scheinen zukünftige Entwicklungen vorwegzunehmen. Diese Regierungen haben gezeigt, dass sie trotz ihrer Rhetorik weder Abhängigkeiten substantiell abgebaut haben, noch die [wirtschaftliche, A.d.Ì.] Rückständigkeit der lateinamerikanischen länder beendet haben. Genauso wenig haben sie die Interessen der Großkonzerne und der lokalen Oligarchien angetastet.
Ein Beispiel der Widersprüche zwischen diesen „progressiven Regierungen“ und den sozialen Bewegungen, die ihre Basis gebildet haben, ist der Fall Correas in Ecuador. Er hat sein Bündnis mit der CONAIE (Föderation indigener Nationalitäten Ecuadors), einem der Stützpfeiler seiner Regierung, verloren, aufgrund seiner Politik der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Ein anderer Fall ist Ollanta Humalas in Peru, der zur Verteidigung der Interessen multinationaler Minenkonzerne die bäuerlichen und indigenen Gemeinden sowie Sektoren der MinenarbeiterInnen in Cajamarca und Espinar brutal unterdrückte. In der Folge sah er sich jedoch gezwungen, innerhalb eines Jahres sein Kabinett zweimal auszutauschen. Aber das vielleicht fortgeschrittenste Beispiel dieser Tendenz ist Bolivien, wo Sektoren der ArbeiterInnenklasse und der Urbevölkerung sich in Opposition zur Regierung von Evo Morales begeben haben, wie wir es in den Mobilisierungen der ArbeiterInnen des Gesundheitssektors und der MinenarbeiterInnen gesehen haben, oder in den vielen indigenen Märschen für die Erhaltung des TIPNIS-Nationalparks, die harter staatlicher Repression ausgesetzt sind.
Diese politische Krise zeigt sich auch in Argentinien: im Kampf um die Nachfolge von Cristina Fernández de Kirchner und in dem Bruch des Flügels der Gewerkschaftsbürokratie, der von Moyano angeführt wird, auch wenn das nur superstrukturelle Bewegungen sind[12].
Der vollendetste Ausdruck dessen, dass unruhige Zeiten bevorstehen, sind die zwei Staatsstreiche, die in der Region schon stattgefunden haben, einmal in Honduras Mitte 2009, der die Regierung Zelayas stürzte (ein Verbündeter von Chávez im ALBA), und kürzlich der „weiche“ Putsch in Paraguay im Juni 2012 seitens der traditionellen Rechten der Partido Colorado („Rote Partei“) und der Liberalen Partei, die den Präsidenten Fernando Lugo absetzten. In beiden Fällen fanden die Staatsstreiche mit voller Kenntnis und Zustimmung der USA statt, die in der Rechten den besten Bündnispartner zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sieht, unter anderem die Militärbasen, die es der USA erlauben, den regionalen Vorstoß Brasiliens „im Zaum zu halten“ und den gesamten Kontinent unter Beobachtung zu halten.
Diese Staatsstreiche sind nicht wie die klassischen Putsche Lateinamerikas der 1970er Jahre, die eine konterrevolutionäre Antwort auf den Aufstieg der ArbeiterInnen waren, sondern zivil-militärische oder zivile Operationen, die von den bürgerlichen Institutionen organisiert wurden. So wurden rechte Parteien wieder an die Macht gebracht, die direkt den Interessen der Sektoren dienen, die den Export von Primärgütern betreiben und mit dem Imperialismus verbunden sind, insbesondere aus der Agrarwirtschaft. Die Regierungen der Region und die Unasur waren unfähig diese Putsche zu verhindern. Die Erfahrung mit den „progressiven Regierungen“ zeigt, dass die wirkliche wirtschaftliche und politische Integration und der Bruch mit der imperialistischen Fremdherrschaft nicht von der Hand der lokalen Bourgeoisien kommen werden, sondern nur durch ArbeiterInnenregierungen, die in der Gründung der Vereinigten Sozialistischen Staaten Lateinamerikas voranschreiten.
II. Ein Szenario sozialer Unruhen
Mit dem Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“ Anfang 2011 eröffnete sich eine neue Periode des Klassenkampfes nach der langen bürgerlichen Restauration, die sich durch Jahrzehnte kapitalistischer Offensive und Rückzug der ArbeiterInnenklasse, ihrer Organisationen und der revolutionären marxistischen Linken charakterisierte.
In der Zeitschrift Estrategia Internacional Nr. 27 haben wir diese Welle, die sich von der arabischen Welt bis in den Westen ausbreitete, mit dem sogenannten „Völkerfrühling“ von 1848 verglichen. Die Analogie basierte fundamental auf drei Elementen: erstens war sie eine sich ausdehnende Welle, die den Klassenkampf nach einer verlängerten Periode sozialer, politischer und ideologischer Reaktion im Rahmen der Wirtschaftskrise wieder auf die politische Bühne brachte; zweitens kombinierte sie tief gehende demokratische, strukturelle und soziale Forderungen; und drittens gab es wie 1848 keine Avantgarde-Parteien der ArbeiterInnen mit einer revolutionären Strategie an der Spitze dieser Welle. Aber im Unterschied zum 19. Jahrhundert ereigneten sich diese Prozesse in der imperialistischen Epoche und erneuerten ihren Charakter als Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen, mit einem Proletariat, welches durch die Erfahrungen der Revolutionen und Konterrevolutionen des 20. Jahrhunderts gegangen ist.
Mehr als anderthalb Jahre nach dem Beginn der Aufstände in der arabischen Welt dehnt sich diese Welle dorthin weiter aus, wo die Attacken der Bosse und des Staates die Massen zum Widerstand getrieben haben. Bisher konnten wird die Entwicklung offener Revolutionen nicht beobachten. Von verlängerten revolutionären Prozessen wie in Ägypten, über reaktionäre BürgerInnenkriege mit Intervention der NATO wie in Libyen, bis hin zu den Mobilisierungen der Lohnabhängigen gegen die Kürzungspläne in der EU: Alles weist darauf hin, dass sich ein Szenario sozialer Unruhen eröffnet hat. Wir wollen hier keine vollendete Analyse der Klassenkämpfe in ihrer Gesamtheit durchführen, sondern nur die hervorstechendsten Prozesse und die Richtungen, die sie eingeschlagen haben, aufzeigen, um die Situation zu analysieren.
1. Die Dynamik des „Arabischen Frühlings“
Bisher fand die Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Faktoren und des Klassenkampfes seinen höchsten Ausdruck in dem sogenannten „Arabischen Frühling“. Diese Welle von Aufständen hat sich in keinem Land in eine soziale Revolution verwandelt, wohl aber verlängerte revolutionäre Prozesse eröffnet, insbesondere in Ägypten und Tunesien, wo die konzentrierte ArbeiterInnenklasse eine zentrale Rolle in den Mobilisierungen spielte. Sie brachte die Diktaturen Mubaraks und Ben Alis zu Fall, auch wenn sie nicht die Hegemonie über die Mittelklassen und die armen Massen erobern konnte. Eine der Schwächen dieser Welle ist, dass sie den Kampf gegen den Imperialismus und den zionistischen Staat Israel nicht zum ausdrücklichen Ziel machte. Dennoch setzte der Fall proimperialistischer Diktaturen, wie der Mubaraks in Ägypten, die Vorherrschaft der USA in der Region unter Druck, die, obwohl die Aufstände auf konterrevolutionäre Weise kanalisiert wurden, bisher nicht vollständig durch die Entstehung neuer stabiler Regime wiederhergestellt werden konnte.
Mit Ausnahme Syriens sind die Massen kaum mehr in Bewegung. In Syrien gibt es seit der Erschöpfung der anfänglichen Massenaufstände einen BürgerInnenkrieg zwischen der Diktatur Assads und der irregulären Milizen der Freien Syrischen Armee und anderer Gruppen, dessen Ausgang zwischen der brutalen Repression seitens des Regimes und der Politik des „Regimewechsels“ durch den Imperialismus entschieden wird. In allen anderen Staaten dagegen versuchen die lokalen herrschenden Klassen, gemeinsam mit den USA, den europäischen Mächten und den proimperialistischen arabischen Regierungen (hauptsächlich die saudische Monarchie und Katar) dieses Pulverfass durch je nach Fall größere oder geringere Konzessionen zu entschärfen. Ob dies tatsächlich gelingt, bleibt jedoch ungewiss. Unter diesem Zeichen stand die direkte Intervention der NATO in Libyen, die konterrevolutionären Niederschlagungen wie in Bahrain und der Anstoß „demokratischer Ìbergänge“ wie in Ägypten, die sich auf die Armee, dem Schutzwall des alten Regimes, und den moderaten Islamismus der Muslimbruderschaft stützen.
Das Ergebnis dieser Politik bleibt wie gesagt nicht sicher. Im Fall Libyens, welcher einer der extremsten Momente des „arabischen Frühlings“ war, wird die Intervention der NATO, die mit „demokratischen“ und „humanitären“ Argumenten verkleidet wurde, von den westlichen Mächten als ein „Erfolg“ wahrgenommen, obwohl nach dem Fall Gaddafis nicht die gewünschte Stabilität erreicht wurde. Auch wenn eine neue proimperialistische Regierung unter der Führung des Nationalen Ìbergangsrats eingesetzt wurde und es im Juni Wahlen gab, konnte das Auseinanderdriften zwischen den verschiedenen Regionen und Ethnien nicht aufgehalten werden. Die Stämme unterhalten sogar bewaffnete Brigaden. Es ist ein Kampf zwischen reaktionären Fraktionen, die einen größeren Anteil der Macht im Staatsapparat erreichen und Mittelsmänner in Beziehung zu den westlichen Mächten sein wollen, von denen sie ihre Pfründe erhalten. Dennoch hatte die direkte Teilnahme der NATO am Lager der „Rebellen“ einen konterrevolutionären Effekt für die Gesamtheit des arabischen Prozesses und schuf einen neuen Präzedenzfall „humanitärer“ Intervention. In diesem Sinne reichen die reaktionären Konsequenzen über die libyschen Grenzen hinaus. Das Ergebnis in Libyen für sich genommen kehrte die gesamte Dynamik jedoch nicht um und der arabische Prozess wurde nicht ein für alle Mal beendet. Der Imperialismus als Akteur zur Beeinflussung der Ereignisse wurde rehabilitiert, wie sich in der Rolle zeigt, die die USA in der Umlenkung Ägyptens einnahm oder in den Versuchen der Opposition in Syrien, die libysche Erfahrung zu wiederholen und sich auf die USA und ihre Verbündeten wie die Türkei oder Saudi-Arabien zu stützen, um an die Staatsmacht zu kommen.
In Ägypten, dem am tiefsten gehenden Prozess des „Arabischen Frühlings“, führte die Armee mit Unterstützung durch die USA und andere westliche Mächte nicht ohne Widersprüche den „Ìbergang“ nach dem Fall Mubaraks hin zu einem Regime der „beaufsichtigten Demokratie“ durch, und versuchte auf diese Weise, so wenig nachzugeben wie möglich und die Rolle der Armee als Schiedsrichter der staatlichen Macht und ökonomischen Akteur zu erhalten (wir erinnern daran, dass die Armee ca. 30% der Wirtschaft kontrolliert). Die Armee demonstrierte Stärke, indem sie das Parlament schließen ließ und die Autorität des Präsidenten einschränkte. Anschließend erkannte sie den Triumph M. Mursis von der Muslimbruderschaft bei den Präsidentschaftswahlen an und übergab ihm formell die Macht.
Die Organisationen, die in der Hitze des revolutionären Prozesses entstanden und mit der jugendlichen Avantgarde des Tahrir-Platzes und den fortgeschrittenen Sektoren der ArbeiterInnenklasse verbunden sind, konnten bei den Wahlen keine unabhängige Alternative präsentieren. Diese radikalisiertesten Sektoren drückten sich verzerrter Weise in dem hohen Stimmenanteil, den H. Sabahi bekam, aus. Er ist ein nasseristischer Kandidat, der sich mit einem bürgerlich-nationalistischen Programm zur Wahl stellte, verbunden mit einigen demokratischen Forderungen der Tahrir-Bewegung, und der in Kairo, Suez und Alexandria der stärkste Kandidat wurde.
Die zweite Wahlrunde zwischen Mursi und Shafiq (letzterer war Premierminister unter Mubarak) zeigte, dass die Eindämmung des Prozesses auf zwei gleich reaktionäre, wenn auch graduell unterschiedliche Varianten vorangeschritten ist: Die eine basiert auf der Kontinuität des alten Regimes und der Armee, und die andere enthält mehr Elemente der Umlenkung, die sich auf die Muslimbruderschaft und die Palette laizistischer und konfessioneller Parteien des Parlaments fokussieren.
Der US-Imperialismus unterstützt sowohl die Armee als auch die gemäßigt-islamistische Regierung der Muslimbruderschaft und versucht so, das neue Regime auf der Basis eines „türkischen Modells“ zu festigen, d.h. ein formell demokratisches Regime, welches von einer gemäßigt-islamistischen Partei dominiert wird, in welchem die Armee weiterhin die wichtigste Institution und die staatliche Ausrichtung zur USA garantiert ist.
Trotzdem wäre es ein Fehler, den Prozess für beendet zu erklären, wie die Tendenz zur Mobilisierung oder zur Intervention der Massenbewegung angesichts jeder Offensive des Regimes zeigt, und vor allem auch die Welle von Streiks, die am Vorabend des Wahlprozesses in wichtigen ArbeiterInnenzentren ausbrach, wie die Textilindustrie Mahallas und die KeramikarbeiterInnen von Suez. Die ersten Wochen der Herrschaft der Muslimbruderschaft zeigten die Widersprüche, die zwischen den Hoffnungen der Massen einerseits, die fühlen, dass sie es waren, die die Diktatur Mubaraks gestürzt haben, und die jetzt ihre Lebensbedingungen verbessern wollen, und dem neoliberalen Programm und der Kollaboration mit dem Imperialismus der Muslimbrüder andererseits entstehen könnten.
Weit entfernt von denjenigen, die einen einfachen Sieg der „demokratischen Revolution“[13]sahen, sind die Prozesse in der arabischen und muslimischen Welt sehr komplex und lösen sich nicht mit einem Mal auf. Das gilt sogar für Ägypten und Tunesien, wo die Prozesse „klassischere“ Züge annahmen, hervorgerufen durch das soziale Gewicht der ArbeiterInnenklasse und ihre Intervention bei den Aufständen. In letzter Instanz ist das, was die bürgerlichen Auswege so instabil macht, die kapitalistische Krise selbst, die mit den tiefgründigen demokratischen und strukturellen Forderungen des Arabischen Frühlings zusammenstößt, welcher bisher nicht in einer Niederlage geendet ist und weiterhin ein anspornendes Element der Situation darstellt.
2. Der Widerstand der ArbeiterInnen, Jugend und Massen in Europa
In verschiedenen ländern der Europäischen Union, insbesondere in denen, die von der Staatsschuldenkrise betroffen sind und die unter der Aufsicht des deutschen Imperialismus und der „Troika“ stehen, sind zehntausende Jugendliche und ArbeiterInnen inspiriert vom „Arabischen Frühling“ auf die Straße gegangen. Diesen verschiedenen Ausdrücken des Widerstands ging der Kampf gegen die geplante Rentenreform Sarkozys in Frankreich im Jahr 2010 voraus, welcher – obwohl er von den bürokratischen Gewerkschaftsführungen in eine Niederlage geführt wurde, welche die Umlenkung der Wut in Richtung der Wahlebene erlaubte – bis heute die fortgeschrittenste Erfahrung der europäischen ArbeiterInnenbewegung seit Beginn der Krise darstellt[14].
Zweifellos hat sich Griechenland, sowohl durch die Schärfe der Wirtschaftskrise als auch durch die Phänomene der Politik und des Klassenkampfes, die sich entwickelt haben, in das schwächste Kettenglied der Europäischen Union verwandelt und macht eine ähnlich brodelnde Situation durch wie Argentinien 2001.
Die Daten weisen darauf hin, dass Griechenland in einer Depression steckt: 2012 wird die Wirtschaft im fünften Jahr in Folge schrumpfen (dieses Mal um 7%), die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 22%, im Durchschnitt haben öffentliche Beschäftigte und RentnerInnen ein Drittel ihres Einkommens verloren und die Schulden nach dem Schuldenschnitt, der mit der Unterschrift des Memorandums vereinbart wurde, liegen bei etwa 113% des BIP. Die Kürzungspläne, die die Troika fordert, verschlimmern nur die Situation. Im Rahmen dieser sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe und der Krise der traditionellen Parteien hat sich in den letzten zwei Jahren eine große Bandbreite der Kampfformen entwickelt: 17 Generalstreiks (zwei davon 48 Stunden lang), sektorielle Streiks und Massenmobilisierungen; die Entstehung der „Platzbewegung“, ähnlich den spanischen „Empörten“, die tagelang den Syntagma-Platz besetzte und das Parlament umzingelte; bedeutende Erfahrungen (wenn auch nur von Minderheitssektoren) der Besetzung und Inbetriebnahme von Betrieben durch ihre ArbeiterInnen wie die Zeitung Eleftherotypia, obwohl sich diese Erfahrung leider nicht verfestigen konnte, und harte und lange ArbeiterInnenkämpfe, wobei der wohl symbolkräftigste der Streik der ArbeiterInnen von Hellenic Steel war, die nach neun Monaten Konflikt von der Regierung aus ND, PASOK und Dimar massiv unterdrückt wurden. Diese Welle von Kämpfen wurde allerdings von den Wahlen vom 6. Mai und 17. Juni kurz aufgehalten, da diese einige Erwartungen weckten, insbesondere in Bezug auf die Fähigkeit, mit der EU die Bedingungen der Kürzungsprogramme zu verhandeln.
Trotz dieser Kampfbereitschaft wurde die Entwicklung dieses Widerstand gegen die Kürzungspläne hin zu einer Dynamik zum politischen Generalstreik durch die Führung der großen Gewerkschaften verhindert. Die BürokratInnen von ADEDY (Gewerkschaftsbund des öffentlichen Dienstes) und GSEE (Privatwirtschaft), die insbesondere mit PASOK und in geringerem Maße mit ND verbunden sind, haben eine Strategie des Drucks durch Streiks ohne Kontinuität verfolgt, von denen die meisten nur 24 Stunden dauerten, um danach die Kürzungen mit den jeweiligen Regierungen verhandeln zu können. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und ihre Gewerkschaftsfront, die PAME, mit Gewicht im Industrieproletariat, besonders in den Häfen, verfolgen eine sektiererische und selbstproklamatorische Politik und weigern sich, eine ArbeiterInneneinheitsfront voranzutreiben und führen stattdessen ihre eigenen Aktionen und Demonstrationen durch.
Im Spanischen Staat entwickelte sich seit der Entstehung der Empörtenbewegung im März 2011 eine Dynamik wachsender Intervention der ArbeiterInnenklasse. Beispiele sind der Generalstreik des 29. März 2012, bei dem gemeinsame Streikposten von Lohnabhängigen, Studierenden und Arbeitslosen gebildet wurden, sowie der Kampf der MinenarbeiterInnen Asturiens, die von zehntausenden Menschen auf ihrem Marsch nach Madrid empfangen wurden, und die wachsenden Mobilisierungen von ArbeiterInnen des öffentlichen Dienstes, die sich den brutalen Kürzungen Rajoys zur Erhaltung der „Rettungsgelder“ der EU entgegenstellen – und das alles im Rahmen einer Verschärfung der wirtschaftlichen Krise[15]. Diese Massenmobilisierungen sind den Attacken bisher nicht gewachsen, insbesondere weil die Gewerkschaftszentralen CCOO und UGT der Choreographie der Gewerkschaften für „normale Zeiten“ folgen, zu eintägigen Streiks und Mobilisierungen aufzurufen, um danach mit der Regierung zu verhandeln, während aber diese ihren Repressionsapparat zur Beantwortung möglicher sozialer Unruhen in Stellung bringt.
Griechenland und der Spanische Staat sind die schärfsten Auseinandersetzungen in einer ganzen Reihe von Kämpfen, zu denen noch die Mobilisierungen in Italien zur Verteidigung des Artikels 18 und der Tarifverträge, der Generalstreik des 22. März in Portugal, der Streik des öffentlichen Dienstes in Großbritannien (welcher trotz geringeren Ausmaßes an den Generalstreik von 1926 erinnerte), und kürzlich die Mobilisierungen der ArbeiterInnen der Autoindustrie in Frankreich gegen die massiven Entlassungspläne von Peugeot und Citroën gehören. Diese Welle reicht sogar bis nach Osteuropa, u.a. nach Tschechien und Rumänien.
3. Der Aufbruch der Jugend
Vom Tahrir-Platz, über die „Indignados“ im Spanischen Staat und Griechenland und der Occupy Wall Street-Bewegung (OWS) bis zu den Bildungsbewegungen in Chile, Quebec und den Jugendlichen der #yosoy132-Bewegung in Mexiko lässt sich der Aufstieg einer neuen kämpferischen Jugend erkennen, wie es sie seit 1968 nicht mehr gegeben hat. Dennoch stehen wir einerseits aufgrund der sozialen Zusammensetzung wie andererseits durch die politischen Ziele noch nicht vor einem Prozess ähnlicher Radikalisierung wie 1968 mit Tendenzen zur Einheit zwischen Arbeitenden und Studierenden. Diese Prozesse sind weder in politischer noch sozialer Hinsicht homogen, jedoch haben die Jugendlichen in den zentralen wie in den halbkolonialen ländern eins gemein: Sie leiden als erste an den Einschnitten der Krise, der Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt und der Arbeitslosigkeit. Wie es M. Davis beschrieb, „sehen sich viele Demonstranten aus New York, Barcelona und Athen drastisch schlimmeren Perspektiven gegenübergestellt, ähnlich zu denen in Casablanca und Alexandria“[16], im Gegensatz zu der blühenden Zukunft der universitären Jugend 1968.
Die OWS-Bewegung brachte Tausende jugendliche AktivistInnen dazu, Plätze und Orte gegen das sinnbildliche 1%, konzentriert in der Wall Street, zu besetzen und sich der Repression entgegenzustellen. Diese Bewegung, obwohl sie auf Jugendliche der Mittelschichten reduziert war, konnte durch ihre Sichtbarkeit und die Sympathie, die die Anklage an die Reichen erzeugte, in der nationalen Politik die Tea Party in den Schatten stellen.
Die „Indignados“ und OWS haben zentrale Gemeinsamkeiten mit der „No Global“-Bewegung, die 1999 in Seattle entstand, besonders die „Illusion des Sozialen“ (Bensaid) als Synonym für Hierarchiefreiheit und das Fehlen einer strategischen Klarheit, um das 1% zu bekämpfen. Doch im Gegensatz zu Letzterem, welches als ideologische Kritik in einer Situation des wirtschaftlichen und finanziellen Aufschwungs entstand und sich an die führenden Institutionen wie den IWF, WHO oder die Weltbank richtete, bewirken die Bedingungen der kapitalistischen Krise, dass die jetzige Bewegung weniger ideologisch ist und eher geneigt, sich in eine organische Komponente zu verwandeln, die sich mit der ArbeiterInnenklasse vereint. Dies zeigte die kleine gemeinsame Aktion von OWS in Oakland und den Hafengewerkschaften im November 2011 oder die Teilnahme vieler „Indignados“ bei den Streikposten während des Generalstreiks am 29. März im Spanischen Staat.
Der Auftritt dieser Bewegungen, die sich weigern, für die Folgen der Krise zu zahlen und die Pläne zur Rettung der Banker und MillionärInnen verurteilen, zeigt einen enormen Ansehensverlust des Neoliberalismus und einen ideologischen Raum für Antikapitalismus, den die Krise wieder geöffnet hat[17]. In diesem Raum diskutieren wir MarxistInnen mit autonomen, und einigen wenigen anarchistischen Strömungen.Wir haben den Vorteil, dass es in der Geschichte schon einige Erfahrungen (wie die spanische Revolution) gibt, bei denen eine Strategie zur Zerstörung der kapitalistischen Macht und zum Aufbaus eines neuen, auf Organen der Selbstbestimmung der Massen aufgebauten Staates fehlte. Diese Strategielosigkeit führte zu keinem fortschrittlichen Ausweg, sondern waren nur eine „poetischere“ Form, sich an das Bestehende anzupassen – sogar an imperialistische Institutionen, wie es Toni Negri tat, als er dazu aufrief, für das Ja im Volksentscheid der Europäischen Union zu stimmen[18].
Das neueste und vielversprechendste Phänomen dieses Aufstiegs der Jugend sind die massiven Bildungskämpfe, die wir in Chile oder in Québec, Kanada sehen konnten. Während die Situation im letzteren Fall mit der wirtschaftlichen Krise und der Erhöhung der Gebühren zusammenhängt (es gab ähnliche Antworten der Studierenden in Puerto Rico, Großbritannien und Eliteuniversitäten in den USA) stellt der chilenische studentische Kampf für kostenlose Bildung (in Verbindung mit Aufständen für lokale Forderungen in Magallanes und Aysén)[19] eine Reaktion der Massen gegen das unterdrückerische und neoliberale Erbe Pinochets dar, welches sich in Form der Rechtsregierung und der Concertación darstellt. Im mexikanischen Fall, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Bildungsbewegungen, waren konkrete politisch-demokratische Forderungen der Antrieb, welche mit Hoffnungen weiterer Teile der arbeitenden Bevölkerung zusammentrafen[20]. Die mexikanische Studierendenbewegung ging der kapitalistischen Krise voraus. In der kommenden Periode werden wir sehen, ob die Jugend und im Besonderen die Bildungsbewegung als eine sensible Schicht der Gesellschaft und Resonanzboden der tiefsten Widersprüche das Eintreten der ArbeiterInnenbewegung vorankündigen wird.
Als allgemeine Definition können wir folgendes sagen: Obwohl sich der Klassenkampf ungleich in das politische Geschehen einbrachte und Millionen auf die Plätze und Straßen gingen, streikten und verhasste Diktaturen stürzten, und sogar in einigen Fällen, wie dem Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich oder dem Streik der Kumpel in Asturien, radikale Kampfmethoden zur Anwendung kamen, befinden wir uns noch nicht in einem neuen Aufschwung der ArbeiterInnen und der Jugend, ähnlich dem letzten revolutionären Anstieg 1968-81, der dem Umfang der kapitalistischen Krise und ihrer Attacken gewachsen wäre. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass objektiv gesehen in den meisten europäischen ländern, ausgenommen dort, wo die Situation so dramatisch ist wie in Griechenland, weiterhin einige Säulen des „Wohlfahrtsstaates“ erhalten bleiben. Dies verhindert bisher radikalere Aktionen der Massen, wobei eben jene Säulen heute in den Kürzungsplänen in Frage gestellt werden. In dieser Situation üben die Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung eine starke Kontrolle aus und haben es bisher geschafft, die Kämpfe im Rahmen der bürgerlichen Legalität zu halten, wie wir in Griechenland gesehen haben. Dieser Unterschied – zwischen der Schärfe der objektiven Situation und der wachsenden Kampfbereitschaft auf der einen Seite und dem relativen Rückstand der Subjektivität und dem Fehlen von strategischen Zielen der Ausgebeuteten, die in den Kampf ziehen, beladen mit den Erfahrungen vergangener Niederlagen und den Konsequenzen aus den Jahren der bürgerlichen Restauration, auf der anderen Seite – ermöglicht der Bourgeoisie trotz der Schwäche ihrer traditionellen Parteien und den Schwierigkeiten, die Krise in den Griff zu bekommen, ihre Kürzungsprogramme in Europa durchzuführen oder Auswege selbst in brenzligen Situationen wie in Ägypten, zu stabilisieren. Durch diese Charakteristika wird dieser Zyklus des Klassenkampfes ein unübersichtlicher, jedoch gleichzeitig konvulsiv und schwerer zu fesseln.
Die Diskussionen zwischen den orthodoxen KürzerInnen und den Neo-KeynesianistInnen über die Frage, wie der Kapitalismus aus seiner schwersten Krise nach der Großen Depression gerettet werden kann[21], zeigt, das jeder bürgerliche Ausweg (wenn sie einen finden) enorme Kosten für die lohnabhängige Bevölkerung in Form von Austeritätsplänen und einer Erhöhung der Ausbeutung mit sich bringt. Dies beinhaltet offensive Angriffe auf die Lebensbedingungen breiter Massen der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend, die von der Abschaffung von Errungenschaften, die sich noch im Wohlfahrtsstaat verschiedener europäischer länder konservieren bis zum Verfall in die Armut immer größerer Sektoren der Jugend in den ländern der Peripherie reichen, die sich, keine Zukunft in Sicht, zum Kampf bereit machen. Dieses Kräftemessen zwischen Ausgebeuteten und AusbeuterInnen ist der objektive Grund für den konvulsiven Charakter dieser historischen Periode, deren Umriss sich in den ersten Kampfepisoden des Prozess von Revolution und Konterrevolution in der arabischen und muslimischen Welt, in dem Widerstand der ArbeiterInnen und der Jugend gegen die Kürzungspläne und in der sozialen und politischen Polarisierung zeigt, die anfängliche Tendenzen kommender, weitaus tieferer Kämpfe in sich trägt.
III. Das Wiederauferstehen von linksreformistischen Kräften und die Politik der RevolutionärInnen
Bis zu diesem Moment haben die soziale Polarisierung und die Krise der traditionellen Parteien in Europa dem xenophoben rechtsextremen Spektrum einen enormen Aufstieg ermöglicht. Doch dieses Panorama ändert sich. Dieses Jahr haben wir den Wiederaufstieg neuer und alter linksreformistischer Kräfte miterlebt, die von der öffentlichen Unzufriedenheit auf der Straße auf Wahlebene profitiert haben, indem sie den linken Leerraum, den die Sozialdemokratie geschaffen hat, füllten. Hierbei handelt es sich um Koalitionen oder „breite Parteien“ mit einem „antineoliberalen“ Profil, in denen stalinistische Organisationen, minderheitliche Brüche der sozialistischen Parteien, MaoistInnen, Grüne und einige Organisationen, die sich als trotzkistisch bezeichnen, zusammenarbeiten und die in ihrer Mehrheit Teil der Europäischen Linken sind, die fundamental von Ex-Kommunistischen Parteien gegründet wurde. Diese antineoliberalen Koalitionen oder Fronten, mit Programmen, die nichts weiter als „keynesianistisch“ sind, werden von politischen BürokratInnen oder Personen mit einer langen Laufbahn von Stellen im Dienste des bürgerlichen Regimes wie der PCF und Mélenchon im Fall der FdG (Front de Gauche) in Frankreich und Synaspismos im Falle Syrizas in Griechenland, geführt.
Der Umschwung eines entscheidenden Teils der Wählerschaft zum Linksreformismus ist kein einheitliches Phänomen, sondern hängt von der Stärke, mit der die ökonomische Krise zugeschlagen hat, und vom Grad der Ablehnung des traditionellen Reformismus ab. Diese Unterschiede spiegeln sich in den Wahlergebnissen wider. Syriza, die begünstigste dieser Koalitionen, konnte einen kometenhaften elektoralen Aufstieg verbuchen (die Stimmen wuchsen in nur drei Jahren von 4% auf 27%) und verwandelte sich somit in die zweitstärkste politische Kraft in Griechenland. Im Gegensatz dazu erlitt Die Linke in Deutschland, die noch bis September 2011 zusammen mit der SPD das Land Berlin regierte, eine herbe Niederlage in Nordrhein-Westfalen und verlor dabei ihre parlamentarische Repräsentation. Die Front de Gauche in Frankreich erlebte ein mittelmäßiges Wahlergebnis, welches weit unter ihren Erwartungen lag. Obwohl sie mit mehr als 10% der Stimmen in den Präsidentschaftswahlen große Teile der Stimmen, die in den vorherigen Wahlen an die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) und, in geringerem Maße, Lutte Ouvrière gegangen waren, absorbieren konnte, war sie wesentlich weiter davon entfernt, die Front National zu übertrumpfen, als erwartet. In den darauffolgenden Parlamentswahlen verlor sie dazu noch einen großen Teil ihres politischen Einflusses. Mélenchon konnte keinen Sitz im Parlament ergattern und sein politischer Partner, die PCF, bekam zwar die Mehrheit der von der FdG erhaltenen Sitze, verlor aber Legislaturen in zentralen Bastionen wie dem alten „Roten Gürtel“ in der Peripherie von Paris. Diese „Rückkehr“ der linksreformistischen Kräfte steht auch in Zusammenhang mit dem Wahlerfolg von G. Galloway von Respect in Bradford, Großbritannien, der einen Sitz, welcher vorher von der Labour Party besetzt wurde, errang. Als rechte Version dieses Spektrums kann auch der elektorale Aufstieg der Izquierda Unida im Spanischen Staat als Ergebnis des gleichen Phänomens gesehen werden[22].
Der Linksreformismus als ein aufsteigendes politisches Phänomen übt starken Druck auf Strömungen aus, die sich als trotzkistisch bezeichnen, vor allem auf europäische, welche selbst Projekte wie breite antikapitalistische Parteien ohne strategische Abgrenzung von Reform und Revolution und ohne Klassendefinition mit einem klaren elektoralen Charakter, antreiben. Mit der Begründung, eine ewige sektenhafte Existenz zu vermeiden, passen sie sich diesen „antineoliberalen“ Phänomenen an und säen die Illusion in diese Parteien, sie könnten einen „antikapitalistischen“ Charakter erlangen oder sogar, im Falle Syrizas, eine „ArbeiterInnenregierung“ anführen, auf die sie auf elektoralem Wege gelängen.
Diese opportunistische Politik richtet ihren größten Schaden in der französischen NPA an, wo sich ein Sektor der alten Führung der LCR, der sich in der Gauche Anticapitaliste befindet, dazu entschieden hat, die NPA zur FdG hin zu verlassen. Dies verschärfte die Krise und die Degeneration in den Reihen der NPA[23]. Eine der Rechtfertigungen dieser Strömung, um zur FdG zu gehen, ist, dass diese nicht in die Regierung von Hollande eingetreten ist. Aber dass die FdG heute nicht an der sozial-liberalen Regierung Hollandes teilnimmt (hauptsächlich, weil dieser nicht die Notwendigkeit hat, sich mit einer linkeren Partei zu verbünden, um eine Regierung zu bilden, wenngleich die Politik der FdG nicht die einer offenen Opposition zur PS ist), heißt nicht, dass ihre Strategie eine andere ist als den kapitalistischen Staat zu verwalten, wie es ihre beiden zentralen Führer bewiesen. Außer den Sitzen in Stadtverwaltungen, die die PCF besitzt, war sie auch schon in der Regierung der „pluralen Linken“ unter Jospin, unter der eine größere Privatisierungswelle als unter allen anderen rechten Regierungen stattfand. Für seinen Teil ist Mélenchon ein professioneller Politiker des bürgerlichen Regimes, der seit 1978 verschiedene legislative und exekutive Stellen einnahm. Auch wenn er in seiner Kampagne eine radikale Rhetorik anwandte und an revolutionäre historische Symbole wie die Pariser Kommune erinnerte, ist seine Politik die der Verteidigung des französischen Imperialismus und der Unterordnung von Bewegungen, die Alternativen zum traditionellen Reformismus suchen, unter die bürgerlichen Institutionen. Dies ist der Sinn seines „linken Republikanismus“ und seines sog. „Aufstands der BürgerInnen durch die Wahl“. Ebenso wie die FdG ist auch Syriza de facto mit derjenigen proimperialistischen Bourgeoisiefraktion verbunden, die nach einer neokeyensianistischen Orientierung bezüglich der Krise sucht, und ist keinesfalls antikapitalistisch. Die Anpassung der sogenannten „extremen Linke“ an die FdG, Syriza und andere ähnliche Varianten, tut nicht mehr als diese neuen Arten der Klassenkollaboration zu stärken, die schließlich in kritischen Momenten als Kanalisierung der Unzufriedenheit und als Ventil angesichts des Verschleißes der bürgerlichen Parteien dienen werden. Weit davon entfernt, eine Abkürzung für die ArbeiterInnenklasse auf ihrem Weg zur Konfrontation mit den KapitalistInnen und ihrem Staat zu sein, sind sie ein Hindernis auf diesem Prozess.
Syriza, die „linke Regierung” und die „ArbeiterInnenregierung”
Durch ihren hohen Stimmenanteil konnte Syriza auf der Wahlebene von der massenhaften Ablehnung der Parteien der Bosse profitieren, also der konservativen Nea Demokratia und der sozialdemokratischen PASOK, die die brutalen Sparpläne mit der „Troika“ aushandelten im Gegenzug für die Rettungsgelder, die für die Zurückzahlung der hohen griechischen Schulden bei den deutschen und französischen Banken ausgegeben werden. Auch wenn Syriza, in verzerrter Form, von dem Raum profitierte, den die 17 Generalstreiks und die zwei Jahre Widerstand der griechischen Massen eröffneten, und ihre Stimmen zu einem wichtigen Teil von den Lohnabhängigen und der Jugend bekam, führt sie keinen bedeutenden Sektor der ArbeiterInnenbewegung an.
Zweifellos führte der Zusammenbruch der bürgerlichen politischen „Mitte“ und der Aussicht, dass Syriza an die Regierung kommen würde, zu einem politischen Erdbeben und zu großer Besorgnisder imperialistischen Regierungen der EU, die Angst davor hatten, dass die griechische Krise außer Kontrolle geraten und die Zukunft des Euros gefährdet sein könnte.Deshalb traten sie eine Kampagne des Terrors los, um die WählerInnen dieser Mitte-Links-Kraft zu entmutigen. Die Möglichkeit, dass nach Jahrzehnten der Marginalisierung und der Zuschauerrolle die „Linke“ über den Weg von Wahlen an die Pforten der Macht herankommen würde, schuf einen großen Enthusiasmus, der sich zum Beispiel in der Erklärung von wichtigen europäischen Intellektuellen mit verschiedenen Ideologien (AutonomistInnen, Ex-MaoistInnen, Ex-KommunistInnen, TrotzkistInnen) zur Unterstützung von Syriza widerspiegelte, vor allem mit „pro-europäischen“ Argumenten, aber auch mit der Forderung nach der Achtung der „Souveränität der Völker“ innerhalb der EU, was eine „Neugründung“ Europas auf der Grundlage von demokratischen Prinzipien impliziere. Unter den UnterzeichnerInnen waren T. Ali, A. Badiou, J. Rancière, M. Lowy, T. Negri, R. Rossanda und G. Agamben. Diese Intellektuellen, enttäuscht vom Stalinismus und überwältigt von Jahrzehnten der ideologischen Reaktion, haben schon vor langer Zeit die Idee der Revolution aufgegeben und eine Strategie des „Möglichen“ übernommen. Daher ihre Begeisterung für Formationen wie Syriza oder die Front de Gauche in Frankreich.
Aber jenseits der Erwartungen in eine „linke Regierung“ reduziert sich der „Zauber“ von Syriza auf ein keynesianisches Programm, um „den Euro zu retten“, und zwar dadurch, dass die EU und der IWF den Druck mindern und sie die griechische Wirtschaft auf diese Art wieder etwas Dynamik gewinnen lassen, um so deren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und die „Strukturreformen“ umsetzen zu können, die von den europäischen Kapitalen gefordert werden[24]. Diese Haltung stellt Syriza in eine breite Front, die von Obama bis Hollande reicht – Tsipras bat letzteren um ein Treffen, jedoch ohne Erfolg –, die Merkel unter Druck setzt, damit sie die Sparlinie lockert und Maßnahmen ergreift, die das Wachstum fördern.
Wie jede Linke, die sich darauf vorbereitet, den kapitalistischen Staat zu verwalten, präsentierte sich Syriza als eine „verantwortungsvolle Linke“, die keine „unilateralen“ Maßnahmen ergreifen würde, die den imperialistischen europäischen Aufbau bedrohen könnten, zum Beispiel ein Zahlungsstopp der Auslandsschulden, die Verstaatlichung der Banken oder die Enteignung der großen Kapitale. Letztendlich teilt sie einen wesentlichen Programmpunkt mit Nea Demokratia und PASOK – und mit dem Großteil der griechischen Bourgeoisie –, nämlich Griechenland als einen „lebensfähigen Kapitalismus“ innerhalb der Europäischen Union zu halten. Syriza legte ein Minimalprogramm mit fünf Punkten vor, das die Ablehnung des Memorandums und ein Moratorium bei der Schuldentilgung und auch eine „Formel der Macht“ beinhaltete, die in ihrem Appell an die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und an die Demokratische Linke (Dimar) zusammengefasst war, eine „linke Regierung“ zu bilden. Trotz ihrer Schwammigkeit war diese Formel attraktiv für einen großen Teil der ArbeiterInnen und der Jugendlichen, die eine „linke Regierung“ als eine Alternative zu den Parteien der „Troika“ ansahen. Zugleich schließt die politische Botschaft, das Memorandum abzulehnen und Griechenland innerhalb der Eurozone zu halten, indem man die Bedingungen mit Deutschland und der EU neu verhandelt (eine Utopie, gleichzeitig für die deutschen, französischen und griechischen Kapitale und auch für die ArbeiterInnen zu reden), an das durchschnittliche Bewusstsein dieser Sektoren an, die, angesichts des Fehlens einer revolutionären politischen Alternative (und gegen die wenig ermutigende Perspektive einer Rückkehr zur Drachme, die einige noch kleinere Sektoren vertreten), an der Illusion festhalten, dass es noch möglich ist, den Preis des Ausgangs der Krise im Rahmen der Europäischen Union zu verhandeln.
Obwohl dieses Programm der Klassenkollaboration und der Versöhnung mit dem europäischen Imperialismus explizit war[25], hat die Mehrheit der Strömungen auf internationaler Ebene, die sich auf den Trotzkismus berufen, eine opportunistische Politik der Unterstützung von Syriza und einer „linken Regierung“ angenommen und damit die Illusionen der Massenbewegung in diese Vermittlungsinstanzen gestärkt.
So hat die LIT (Liga Internacional de Trabajadores) eine Volksfrontpolitik der Einheit von allen gegen die Rechte – jenseits der Klassen oder der Programme – vertreten, wie es zum Beispiel die „anti-neoliberalen Fronten“ waren, deren logische Schlussfolgerung die Bildung einer „Anti-Sparpolitik-Regierung“ unter Führung von Syriza wäre.
Die Führung des Vereinigten Sekretariats (VS) der Vierten Internationale gab offen zu, dass sie eine linksreformistische Organisation unterstützte und nahm das Fünf-Punkte-Programm von Syriza als ihr eigenes auf, obwohl sie es nicht für ein antikapitalistisches Programm hielt. Sie rief sogar öffentlich dazu auf, für Syriza zu stimmen, obwohl ihre eigene griechische Sektion als Teil des antikapitalistischen Bündnisses Antarsya antrat.
Die PO (Partido Obrero) aus Argentinien rief dazu auf, die Losung einer „Regierung der gesamten Linken“ zu verteidigen, mit der Forderung, dass diese „mit dem Imperialismus, d.h. mit der Europäischen Union, bricht, antikapitalistische Maßnahmen ergreift und eine ArbeiterInnenregierung vorantreibt“[26]. Sie machte eine Analogie zur Taktik der „ArbeiterInnenregierung“, die in den 20er Jahren von der Dritten Internationale diskutiert wurde und später von Trotzki ins Ìbergangsprogramm aufgenommen wurde.
Zur Rechtfertigung ihrer Wahlempfehlung für Syriza führen sie die Taktiken der Einheitsfront und der ArbeiterInnenregierung als Argumente an, doch nur auf Wahlebene, d.h. in einem opportunistischen Sinne, der dem revolutionären Inhalt entgegengesetzt ist, den die Dritte Internationale in den 20er und Trotzki in den 30er Jahren diesen Taktiken gab. Das ist im Grunde auf eine Ìbersetzung der Wahlarena zum Nachteil des Klassenkampfes zurückzuführen. J. Altamira von der PO ging so weit, die Laufbahn von Syriza seit der Abspaltung der Demokratischen Linken (der Flügel, der einem Bündnis mit der PASOK am meisten zugeneigt war, und der heute in der Regierung mit den Parteien der Troika sitzt) mit Phänomenen des Zentrismus der ArbeiterInnen zu vergleichen, vor allem innerhalb der französischen Sozialistischen Partei in den 30er Jahren. Deswegen ist es notwendig, den nicht nur politischen sondern auch sozialen Charakter von Syriza zu definieren, bevor wir voll in die Debatte über die Politik der RevolutionärInnen gegen die Losung der „linken Regierung“ und die Taktik der „ArbeiterInnenregierung“ einsteigen.
Die wichtigste politische Kraft innerhalb von Syriza ist Synaspismos, deren Wurzeln in der eurokommunistischen Spaltung der alten stalinistischen Partei und diversen späteren Wiedervereinigungen und Spaltungen liegen. 1989 nahm Synaspismos, in der damals beide Flügel der kommunistischen Partei vereint waren, im Rahmen einer tiefgründigen politischen Krise, die durch einen Korruptionsskandal mit PASOK-Beteiligung ausgelöst wurde, an einer Koalitionsregierung mit Nea Demokratia teil. Im folgenden Jahr schlossen sie sich einer zweiten Koalitionsregierung an, dieses Mal auch mit PASOK-Beteiligung. Diese Politik der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Regierbarkeit führte zur Abspaltung der Jugend, die die Neue Linke Strömung (NAR) gründete, welche aktuell Teil der antikapitalistischen Koalition Antarsya ist. Zu Beginn der 1990er Jahre spalteten sich die zwei Flügel der Kommunistischen Partei wieder in die traditionell stalinistische KKE und Synaspismos, den eurokommunistischen Flügel, welcher eine stärker sozialdemokratische Position einnahm und sowohl im politischen als auch im gewerkschaftlichen Bereich mit der PASOK zusammenzuarbeiten tendierte. Laut S. Kouvelakis, der zur Unterstützung Syrizas aufgerufen hatte, war Synaspismos „keine sehr kämpferische Partei. Sie beinhaltete verschiedene ”šehrenwerte Bürger‘, die hauptsächlich gemeinsam verschiedene Wahlstrategien verfolgten“[27]. Später unternahm Synaspismos einen Schwenk in Richtung der globalisierungskritischen Bewegung und fusionierte 2004 mit anderen kleineren Kräften (MaoistInnen, Grüne und einige Gruppen, die sich trotzkistisch nennen) zu Syriza, einem Wahlbündnis ohne strukturellem Gewicht in der ArbeiterInnenklasse, wie sich in den Generalstreiks gezeigt hat, die hauptsächlich von den offiziellen Gewerkschaftsbürokratien und in geringerem Maße von der Kommunistischen Partei angeführt wurden. Bei den Wahlen vom 17. Juni 2012 erreichte Syriza dort viele Stimmen, wo die Mehrheit der Lohnabhängigen wohnen, vor allem in Wahlbastionen der PASOK und auch der Kommunistischen Partei, die traditionell eine starke Präsenz unter ArbeiterInnen hatte[28]. Die Stimmen für Syriza erklären sich aus dem Kollaps der Sozialdemokratie und der Tendenz zur „taktischen Wahl“ für Syriza, was sich in der enormen Lücke zwischen dem Wahleinfluss und der effektiven Kapazität, bedeutende Sektoren der ArbeiterInnenbewegung anzuführen, ausdrückt[29]. Syriza ist viel eher eine Partei, die um „medienwirksame“ Figuren und ihr parlamentarisches Gewicht herum konstruiert wurde, als eine AktivistInnen-orientierte Partei der ArbeiterInnen und der Jugend. Daher drückt Syriza keine Gegentendenz zur Verwandlung von Parteien in Wahlmaschinen ohne AktivistInnen aus. Die Positionierung von Syriza als parlamentarische Opposition zur „Kontrolle“ der Regierung von Nea Demokratia bestätigt, dass ihre Strategie nicht die Entwicklung der unabhängigen Mobilisierung der ArbeiterInnen und der Jugend zum Sturz der Kürzungsparteien ist, sondern die Eindämmung und Kanalisierung der Ablehnung der traditionellen bürgerlichen Parteien durch die Institutionen des Regimes und der EU.
Aus all diesen Gründen ist es klar, dass der Aufstieg von Syriza bei den Wahlen nicht im Geringsten mit der Entstehung des Massenzentrismus in den 1930ern verglichen werden kann, wie zum Beispiel die SFIO in Frankreich 1934, als die Kombination von Tausenden von ArbeiterInnen in ihren Reihen und des Bruchs mit dem rechten Flügel dieser Partei trotz ihrer reformistischen Führung einen zentristischen Charakter gab[30]. Außerdem existierte in dieser Partei ein sehr wichtiger linker Flügel, angeführt von M. Pivert, der für die Ideen des Trotzkismus empfänglich war. Unter diesen Bedingungen und angesichts der geringen Kräfte der französischen Ligue Communiste (die Gruppe der Linken Opposition), was sie daran hinderte, eigenständig tätig zu sein, schlug Trotzki die Taktik des Entrismus in die SFIO vor, mit dem Argument, dass diese ein Ausdruck der „Ìbergangssituation der Arbeiter [sei], die einen Ausweg suchen, der sie auf den revolutionären Weg bringt“. Gleichzeitig erhob er die Politik der ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Vorstoß des Faschismus, als die kommunistische Partei ihre Wendung von der sektiererischen Politik der Dritten Periode zur opportunistischen Linie der Volksfront noch nicht vollendet hatte. Dieser Unterschied ist nicht anekdotisch, denn es ist eine Sache, mit der WählerInnenbasis von Syriza zu dialogieren, was offensichtlich jedeR RevolutionärIn in Griechenland tun sollte, und eine völlig andere, eine Taktik, deren Effektivität in der Intervention in organische reformistische oder zentristische Phänomene der ArbeiterInnenklasse liegt, auf Phänomene anzuwenden, die ein vorübergehender Ausdruck der Stimmung der Massen auf Wahlebene sind.
Ohne Zweifel steht die Taktik der „Einheitsfront“ in Richtung der ArbeiterInnenmassenorganisationen, also vor allem der Gewerkschaften und der politischen Organisationen, die im Namen der ArbeiterInnenklasse sprechen, auf der Tagesordnung, um den Kampf gegen die Attacken des Kapitals und der Koalitionsregierung von ND zu entwickeln, um die neonazistische Gefahr zu konfrontieren, die sich heute in Keimform in der „Goldenen Morgenröte“ ausdrückt, und um die Erfahrungen der ArbeiterInnenbewegung mit den reformistischen und bürokratischen Führungen in den Aktionen voranzutreiben und ihnen die Führung streitig zu machen. Diese Politik ist Teil des Arsenals des revolutionären Marxismus. Angesichts des schnellen Aufstiegs des Faschismus in Deutschland erklärte Trotzki 1931, dass man den Führungen der ArbeiterInnenbewegung die Einheitsfront gegen den Faschismus aufzwängen müsste; aber er wies darauf hin, dass, während die opportunistische Politik der Wahlabkommen oder parlamentarischen Blöcke zum Vorteil der ReformistInnen gegenüber den revolutionären Kräften seien, die „praktischen Vereinbarungen über Massenaktionen“ zur Weiterentwicklung des Kampfes die revolutionären Parteien stärken und die ReformistInnen schwächen würden[31]. Damit meinte er keineswegs, dass RevolutionärInnen keine Wahl- oder parlamentarischen Taktiken haben sollten, sondern dass sie Abkommen oder politische Blöcke mit den ReformistInnen vermeiden sollten, die sie nicht verpflichten, sich im Kampf auf der Straße zu engagieren. In Griechenland verhindern die Gewerkschaftsführungen heute – sei es mit ihrer Politik der Unterordnung unter die PASOK und die Parteien der Bosse wie im Falle der Mehrheitssektoren der Bürokratie, oder sei es mit der Kombination von extremem Sektierertum und Opportunismus wie im Falle der von der KKE geführten Gewerkschaftsfront –, dass sich die notwendige Einheitsfront materialisiert, um die Sparpläne und die Regierungen, die sie durchsetzen, zu stürzen, trotz der 17 Generalstreiks. Der Fakt, dass die Massenbewegung diese Einheitsfront nicht durchgesetzt hat, dass sie die alten gewerkschaftlichen Organisationen nicht erneuert hat und dass keine neuen politischen Phänomene der ArbeiterInnen entstanden sind und dass der Linksreformismus stärker wird, zeigt, dass die politische Radikalisierung embryonal ist. Es ist notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Gewerkschaften ein Ìbergangsprogramm erheben, welches die Interessen der KapitalistInnen angreift und jede korporativistische Politik überwindet und so einen proletarischen Ausweg für die Gesamtheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufzeigt; ein Programm, welches mit der Ablehnung des Memorandums beginnt und die Verstaatlichung der Banken und der Unternehmen, die schließen, unter ArbeiterInnenkontrolle fordert, wie es die Keramikgewerkschaft in Zanon machte und so einen proletarischen Ausweg aus der Krise von 2001 in Argentinien aufzeigte. Wenn sich der Kampf in dieser Perspektive entwickelt, wäre es schließlich nötig, die Taktik der ArbeiterInnenregierung aufzuwerfen – sei es, weil schon Organismen der Selbstbestimmung der Massen im Kampf als Resultat des Aufstiegs und der Tendenz der ArbeiterInnenklasse, ihre opportunistischen Führungen zu überwinden, existieren, oder um die Entwicklung dieser räteähnlichen Mechanismen voranzutreiben. Die Bedingung zur Anwendung dieser Taktik, die an die reellen Organisationen der ArbeiterInnenklasse gerichtet ist, auch wenn sie reformistisch sind, ist die Existenz einer revolutionären Situation und dass diese Politik die Entwicklung der revolutionären Partei ermöglicht, die den traditionellen Führungen der ArbeiterInnenbewegung ihre Position streitig machen kann. Dieses Konzept der Einheitsfront in Richtung der Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse zur Entwicklung des Kampfes hat nichts damit zu tun, zur Wahl linksreformistischer Wahlvarianten wie Syriza aufzurufen oder sogar unkritisch ihr Minimalprogramm zu akzeptieren.
Aus demselben Grund scheint es uns auch nicht korrekt, Syriza aufzufordern, eine „ArbeiterInnenregierung“ anzuführen, d.h. dass es auf der Tagesordnung stünde, in Richtung dieser Organisation die Taktik der „ArbeiterInnenregierung“ der 1920er Jahre anzuwenden. In den Diskussionen der III. Internationale hatte die Forderung der „ArbeiterInnenregierung“ zum Ziel, das Proletariat in seiner Konfrontation mit dem bürgerlichen Regime insgesamt voranzutreiben. Die Teilnahme der RevolutionärInnen in einer ArbeiterInnenregierung, die vom linken Flügel des Reformismus angeführt wird, wie in den Regierungen von Sachsen und Thüringen 1923, war nur als Ìbergang zur Organisierung der Machteroberung durch das Proletariat in Bedingungen des Zerfalls des bürgerlichen Staates zur Vorbereitung des Aufstands erlaubt[32]. Die Forderung der „ArbeiterInnenregierung“ im Rahmen der Wahl politischer Varianten wie Syriza aufzustellen, die kein organisches Gewicht in der ArbeiterInnenklasse haben, während weder ArbeiterInnen- und Massenorganisationen im Kampf existieren, die den Bruch mit der Bourgeoisie durchsetzen können, noch die ArbeiterInnenregierung vom Proletariat als Position zur Organisierung der Machteroberung angesehen wird, ist mindestens opportunistisch und weit davon entfernt, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, in Richtung der Revolution voranzuschreiten, und verstärkt pazifistische und parlamentarische Illusionen. Das Vereinigte Sekretariat ist die Extremvariante dieser politischen Logik und nutzt die „ArbeiterInnenregierung“, um ihre Teilnahme an der Verwaltung des kapitalistischen Staates zu rechtfertigen, wie es ihre brasilianische Sektion im Falle des „partizipativen Haushalts“ von Porto Alegre getan hat[33].
Revolutionäre ArbeiterInnenparteien versus parlamentarische Linke
Paradoxerweise steckt, während die objektiven Bedingungen und der Klassenkampf für die revolutionäre Perspektive günstiger werden, ein großer Teil der zentristischen Strömungen der extremen Linken in Europa in einer tiefen Krise, nachdem ihre Projekte „breiter antikapitalistischer Parteien“ wie die NPA oder klassenkollaborationistische Fronten wie RESPECT[34], die von der britischen SWP angetrieben wurde, gescheitert sind. Mit dieser Politik wollten sie, wie A. Callinicos erläutert, „dem Ghetto der extremen Linken entfliehen und sich mit einem breiteren Publikum umgeben“, das notwendigerweise durch den Reformismus beeinflusst ist[35]. Aber das Ergebnis war ein anderes.
Die wichtigsten Gründe für das Scheitern der breiten Parteien im Allgemeinen und insbesondere der NPA als illusorischer Form der „Ìberwindung des Sektierertums“ sind, dass sie sich auf Wahlebene – hauptsächlich in einem linksreformistischen Milieu – errichten wollten, rund um Medien-Persönlichkeiten wie O. Besancenot, aber kein Gewicht in organischen Sektoren der ArbeiterInnenklasse und keine grundlegenden strategischen Definitionen, wie die Eroberung der Macht durch das Proletariat, besaßen. Kurz gesagt war dies eine bewusste Politik der zentristischen Organisationen, den Aufbau revolutionärer ArbeiterInnenparteien, die auf den Erfahrungen des Klassenkampfes gegründet werden, zu beenden, nach Abkürzungen zu suchen, deren Grundlagen außerhalb der revolutionären Tradition liegen, und sich als eine „medienwirksame“ elektoralistische Linke aufzubauen.
Die Folgen dieser Politik zeigten sich dramatisch in Frankreich während des Rentenkampfes von 2010, in dem die NPA trotz ihrer Teilnahme nicht in der Lage war, eine Alternative zur Verhandlungslinie der Gewerkschaftsbürokratie, die diesen Kampf geführt hatte, anzubieten. Zum Teil, weil sie keine vorherige Basis in Sektoren der ArbeiterInnenbewegung hatte, aus denen heraus sie eine andere Politik als die Bürokratie hätte aufstellen können. Die NPA versagte politisch in doppelter Hinsicht, da sie ebenfalls keine Erfolge in der Wahlarena erreichen konnte, wie man am Aufstieg der Font de Gauche (FdG) sehen konnte, die in der Tat den gleichen Raum besetzt, an den sich die NPA gewandt hat. Als Ergebnis dieser Politik hat sich die FdG als reformistische Vermittlung gestärkt, die die NPA in der Präsidentschaftswahl 2007 noch besiegt hatte[36].
Letztlich drückt die Anpassung vieler trotzkistischen Strömungen an linksreformistische Varianten ihre Skepsis aus, dass die ArbeiterInnenklasse auf die kapitalistische Krise auf revolutionäre Weise reagieren kann. Sie passen sich daher an Phänomene an, die die politische Radikalisierung der Massen widerspiegeln und agieren, in gewisser Hinsicht, ähnlich wie es diese Strömungen bereits in Lateinamerika taten, als der Chavismus oder die MAS von Evo Morales entstanden sind. Die Entwicklung von Phänomenen kämpferischer ArbeiterInnen und zentristischer Parteien ist ein Maßstab, der untrennbar mit der Tendenz zur Radikalisierung in Richtung embryonaler revolutionärer Positionen verbunden ist, was sich aber nicht in der Abstimmung für FdG oder SYRIZA zeigt.
Die Krise dieser Projekte ist nicht konjunktureller Art, sondern drückt die Grenzen und die Erschöpfung dieser opportunistischen Politik aus, das ganze revolutionäre Programm in einem allgemeinen Antikapitalismus aufzulösen, der weit davon entfernt ist, den Sektoren der Jugend und der ArbeiterInnen zu helfen, sich zu revolutionären Positionen zu bewegen. Diese Politik hat so zur Krise der marxistischen Linken beigetragen. Gegenüber diesem Projekt, eine Partei ohne wirkliche Verankerung in der ArbeiterInnenklasse aufzubauen, ist die Alternative aber auch nicht die passive Gewerkschaftsarbeit von Lutte Ouvrière. Diese Strömung hat eine bedeutende Anzahl von Delegierten in wichtigen ArbeiterInnenzentren, aber mit einer Politik der vollständigen Anpassung an die Gewerkschaftsbürokratie der CGT, mit einer Kombination aus Elektoralismus und Gewerkschaftsarbeit, die genauso machtlos ist, Phänomene wie die FdG zu konfrontieren, wie es die NPA ist.
Dagegen kehren wir, von der FT-CI, zurück zu den klassischen marxistischen Ausarbeitungen der Dritten Internationale und Trotzki über Taktik und Strategie. In den ländern, in denen wir agieren, kämpfen wir im Ausmaß unserer Kräfte für den Aufbau revolutionärer marxistischer Organisationen mit organischem Gewicht in Sektoren der ArbeiterInnenklasse, die sich in Richtung des Klassenkampfes orientieren. Mit diesem strategischen Ziel kämpfen wir in der ArbeiterInnenbewegung und der Jugend und greifen auch in den Wahlprozess ein. In Argentinien ist die PTS Teil der „Linken Front“, wo wir die Wahltribüne und die Sitze im Provinzparlament nutzen, um den Kampf für eine alternative Politik der Klassenunabhängigkeit aufzunehmen. Wir haben eine Nationale ArbeiterInnenkonferenz veranstaltet, zu der etwa 4.000 TeilnehmerInnen kamen, darunter auch einige der wichtigsten ArbeiterInnenführerInnen, die in den letzten Jahren die Bühne betreten haben. Mit dieser Konferenz und ihren Resolutionen wollen wir der ArbeiterInnen-Avantgarde helfen, ihren Kampf für Gewerkschaften ohne BürokratInnen und für eine Partei der ArbeiterInnen ohne Bosse voranzutreiben. In Chile hatte die PTR einen wichtige Intervention im mächtigen Kampf der Studierendenbewegung für kostenlose Bildung, die sich gemeinsam mit Tausenden der studentischen Avantgarde der versöhnlichen Führung der Kommunistischen Partei gegenübergestellt haben. Ihr zweiter Kongress widmete sich der Frage, wie Zusammenfluss mit der breiten jugendlichen Avantgarde für den Aufbruch des Trotzkismus in Chile genutzt werden kann. Im Spanischen Staat haben die GenossInnen von Clase contra Clase in der „Empörten“-Bewegung mit einer Politik der Einheit der Jugend und der ArbeiterInnenklasse interveniert und einen politischen Kampf mit autonomen und anarchistischen Strömungen geführt, die sich dieser Perspektive widersetzten. Sie starteten die Gruppierung No Pasarán, um mit jungen AktivistInnen, die in einer unruhigen Situation zum politischen Leben erwacht sind, gemeinsame Erfahrungen zu machen. In Frankreich führen die GenossInnen von der Revolutionären Kommunistischen Strömung (CCR – Plattform 4)[37] einen großen Kampf innerhalb der NPA für die Entstehung einer revolutionären Umgruppierung im Rahmen der Krise dieser Partei. In Mexiko haben sich die GenossInnen der LTS an der Jugendbewegung „#yosoy132“ beteiligt und für die politische Unabhängigkeit von den bürgerlichen Parteien wie der PRD gekämpft. Dies sind nur einige Beispiele der Intervention der Gruppen der FT-CI, wo es die objektiven und subjektiven Bedingungen erlauben, tiefgründigere Erfahrungen zu machen und Ìbergangspolitiken zu entwickeln, um Sektoren von ArbeiterInnen und der jugendlichen Avantgarde zu revolutionären Positionen voranzutreiben, mit denen wir uns zu verschmelzen versuchen, um an Ort und Stelle den Trotzkismus aufzubauen. Dies bedeutet nicht, dass wir denken, dass der Wiederaufbau der Vierten Internationale durch die evolutionäre Entwicklung unserer internationalen Strömung möglich ist, sondern nur durch Fusionen auf der Grundlage gemeinsamer programmatischer Lehren der wichtigsten Ereignisse des Klassenkampfes[38].
Die kapitalistische Krise eröffnet neue Möglichkeiten für den Wiederaufstieg des revolutionären Marxismus, legt die Schwächen unserer Klassenfeinde frei und führt zur Entstehung der mit großem Potential einhergehenden sozialen Kraft von Millionen von ArbeiterInnen und jungen Menschen, die sich in Bewegung setzen. Aber diese Wiederbelebung des Marxismus wird nicht automatisch geschehen, sondern das Produkt der theoretischen, ideologischen und politischen Kämpfe für den Aufbau starker internationalistische revolutionärer Parteien mit Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse und mit den Ziel des Wiederaufbaus der Vierten Internationale sein.
// zuerst erschienen in „Estrategia Internacional“ Nr. 28 – August 2012 //
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