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Hinter der Bühne der Revolte
von : RIO | Revolutionären Internationalistischen Organisation, Deutschland , Wladek Flakin

22 Apr 2013 | 1968 gab es einen Aufschwung der Klassenkämpfe in vielen Teilen der Welt – auch in der BRD. Die trotzkistische Bewegung in Westdeutschland nahm aktiv an der Revolte teil, aber sie konnte nicht viel davon profitieren. Was haben die deutschen TrotzkistInnen im Jahr 1968 gemacht und warum konnten sie nicht bedeutende Sektoren der revolutionären (...)

Von Wladek Flakin

1968 gab es einen Aufschwung der Klassenkämpfe in vielen Teilen der Welt – auch in der BRD. Die trotzkistische Bewegung in Westdeutschland nahm aktiv an der Revolte teil, aber sie konnte nicht viel davon profitieren. Was haben die deutschen TrotzkistInnen im Jahr 1968 gemacht und warum konnten sie nicht bedeutende Sektoren der revolutionären Jugend um sich sammeln? Eine Untersuchung der damaligen Politik der TrotzkistInnen, um Schlussfolgerungen für heute zu ziehen.

Februar 1968. Westberlin. 6.000 vorwiegend junge Menschen aus Westdeutschland und anderen ländern versammeln sich an der Technischen Universität Berlin für den Internationalen Vietnam-Kongress. Der bekannteste Redner ist Rudi Dutschke vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Doch neben ihm auf dem Podium sitzen auch Trotzkisten wie Ernest Mandel und Tariq Ali. Hinter der Bühne – im wörtlichen und im metaphorischen Sinne – steht die kleine trotzkistische Organisation in Westdeutschland. Die Gruppe hat nicht mal einen Namen – ihre Mitglieder sprechen einfach von der „deutschen Sektion“ (manchmal auch „…der Vierten Internationale“). Obwohl Schriften von Leo Trotzki und auch Ernest Mandel vom SDS-Verlag „Neue Kritik“ herausgegeben und in der Studentenbewegung diskutiert werden, ist der Trotzkismus als politische Strömung – im Gegensatz zum Autonomismus und zum Maoismus – kaum wahrnehmbar und kann nur wenig von der 68er-Revolte in Westdeutschland profitieren.

Die trotzkistische Bewegung der BRD konnte diese Schwäche bis heute nicht überwinden. Der/die bekannteste TrotzkistIn Frankreichs, der Postbote Olivier Besancenot, erhielt als 28-jähriger Präsidentschaftskandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) bei den Wahlen im Jahr 2002 1,5 Millionen Stimmen. Doch der/die bekannteste trotzkistische AktivistIn Deutschlands, Lucy Redler, bekam als 27-jährige Spitzenkandidatin der WASG Berlin bei den Abgeordnetenhauswahlen im Jahr 2006 gerade mal 40.000. Und die WASG war nicht einmal eine trotzkistische Kandidatur, sondern eine Abspaltung der SPD, die bald darauf mit der PDS zur heutigen Partei „Die Linke“ fusionieren sollte. Die Ergebnisse anderer trotzkistischer Wahlantritte sahen in der Regel noch düsterer aus.[1]

Perry Anderson, Historiker und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift „New Left Review“ fragte am Ende seiner Studie „Ìber den westlichen Marxismus“, warum der Trotzkismus, als marxistische Alternative zum Stalinismus, im Vergleich zum „westlichen Marxismus“ (zum Beispiel die „Frankfurter Schule“) wenig Anziehungskraft auf die „neue Linke“ nach 1968 hatte: „”šHinter der Bühne‘ überlebte und entwickelte sich eine weitere, völlig anders geartete Tradition, die zum ersten Mal während und nach der französischen Explosion 1968 größere Aufmerksamkeit auf sich zog. Gemeint ist natürlich die Theorie und das Erbe Trotzkis.“[2] Die trotzkistische Bewegung in Frankreich wurde nach 1968 zu einer kleinen, aber bedeutenden politischen Kraft – in Deutschland dagegen blieb der Trotzkismus marginal. Das ist besonders erstaunlich in Anbetracht der Tatsache, dass in den 70er Jahren bis zu 100.000 Menschen die maoistischen Gruppen („K-Gruppen“) „in irgendeiner Weise durchlaufen“ haben.[3]

Der langjährige Trotzkist Oskar Hippe, der ab 1969 den Aufbau einer neuen trotzkistischen Jugendorganisation begleitete, stellte in seiner Autobiographie fest, dass keine „größere Gruppen der Studenten“ sich dem Trotzkismus näherten: „Die meisten [Studenten] sahen zu dieser Zeit in Mao Zedong und im Volkskrieg ihr Heil und in Stalin ihren Ahnherrn.“[4] Aber warum?

Dazu ist zunächst ein Blick auf die internationale Lage, aus politischer wie wirtschaftlicher Sicht, notwendig: Leo Trotzki hatte zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vorhergesagt, dass dieser zu einer neuen revolutionären Welle führen würde, die die stalinistische Bürokratie der Sowjetunion hinwegfegen würde. Doch aufgrund der Rolle der sowjetischen Armee im Krieg gegen die Nazis erlangte der Stalinismus neue Legitimität. Im Gefolge des Krieges wurden auch neue, bürokratisch deformierte ArbeiterInnenstaaten etabliert, wie gerade die DDR, die einen großen Einfluss auf die Linke in Westdeutschland ausübte. Aufgrund der Anziehungskraft des Stalinismus (und seiner Varianten wie des Maoismus) entwickelten sich die revolutionären Erhebungen in halbkolonialen und kolonialen ländern nach dem Zweiten Weltkrieg unter kleinbürgerlich-nationalistischen Führungen, die damit keinen Anstoß für revolutionäre Bewegungen in den zentralen imperialistischen ländern geben konnten.

Dazu kam der Nachkriegsboom, der dazu führte, dass die privilegierteren Schichten der ArbeiterInnenklasse und insbesondere die Gewerkschaftsbürokratie von den KapitalistInnen kooptiert wurden. Die Klassenkollaboration erlangte in allen imperialistischen ländern große Bedeutung, insbesondere aber in der BRD. Während in Frankreich die Radikalisierung um 1968 die Studierendenbewegung mit den Streiks der ArbeiterInnenklasse zusammenbrachte, besonders beim Generalstreik im Mai 1968, blieb die Radikalisierung der Jugendlichen in Deutschland im Jahr 1968 von den ArbeiterInnen isoliert. Tendenzen zur Radikalisierung unter den ArbeiterInnen in Deutschland kamen erst bei den Septemberstreiks 1969 und wieder bei der Streikwelle von 1972–73 zum Vorschein, aber auch dort blieb ein erheblicher Teil der ArbeiterInnenklasse unter fester Kontrolle der sozialpartnerschaftlichen Bürokratien.

Neben den schwierigen objektiven Bedingungen hat auch die subjektive Politik der trotzkistischen Gruppen der BRD vor und während der 68er-Revolte sie davon abgehalten, größere Anziehungskraft auf die sich radikalisierende Jugendbewegung auszuüben.
Trotzkismus in der Nachkriegszeit

Die Vierte Internationale wurde 1938 als konsequente Opposition gegen die konterrevolutionäre Politik der Zweiten Internationale (Sozialdemokratie) und der Dritten Internationale (Stalinismus) gegründet. Trotzki und seine MitstreiterInnen bekämpften auch Strömungen, die zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwankten (Zentrismus), um der neuen Internationale ein klar revolutionäres Programm zu geben. Bereits seit der Gründung der Internationalen Linksopposition im Jahr 1929 hatten Trotzki und seine AnhängerInnen eine internationale Organisation mit einem internationalen Programm aufgebaut. Deswegen kann die Politik der deutschen TrotzkistInnen nach dem Zweiten Weltkrieg nur aus einer internationalen Perspektive betrachtet werden. Ihre Positionen sind darauf zurückzuführen, dass die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zu einer zentristischen Strömung wurde.

Diese Degeneration der Vierten Internationale ist unter anderem auf das Massaker an trotzkistischen Kader während des Zweiten Weltkrieges, sowohl durch faschistische wie stalinistische HenkerInnen, zurückzuführen. Die jungen RevolutionärInnen, die nach 1945 die Führung der Internationale übernommen haben, waren nicht in der Lage, die neue Situation zu analysieren. Statt des erwarteten revolutionären Aufschwungs, brachte die „Jalta-Ordnung“ nach dem Krieg eine Stärkung der konterrevolutionären Führungen der ArbeiterInnenbewegung. Die TrotzkistInnen, die den unmittelbaren Ausbruch eines „Dritten Weltkriegs“ erwarteten, passten sich diesen Führungen stark an. Denn aus der Erwartung, dass der baldige Kriegsausbruch keine Zeit für den Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien lassen würde, schlussfolgerten sie, dass sie ihre Organisationen in sozialdemokratische oder stalinistische Massenparteien auflösen müssten, um dort konspirative, nicht explizit trotzkistische Arbeit zu leisten. Diese Politik des „Entrismus sui generis“ (siehe Infokasten) bedeutete die Aufgabe eines offen revolutionären Programms.[5]

An anderer Stelle haben wir geschrieben, „dass sich die IV. Internationale nach der Periode 1951-1953 in eine zentristische Bewegung verwandelte, in der der gemeinsame Nenner seiner Hauptströmungen der Verlust einer strategischen Ausrichtung auf unabhängige revolutionäre Parteien war. Sie passte sich eklektisch jeder Führung an, die sich in der Massenbewegung stärken konnte, wie die Anpassung an Tito, Mao, Castro usw., zeigte, womit sie auch die Kontinuität des revolutionären Marxismus brach.“ Doch das bedeutet nicht, dass wir den „trotzkistischen Zentrismus“ einfach zur Seite schieben könnten. Im Gegenteil „haben wir, angesichts der teilweisen korrekten Widerstände gegenüber offenem Verrat [...] und vor dem Hintergrund der gebrochenen revolutionären Kontinuität, behauptet, dass ”šFäden der Kontinuität‘ geblieben sind, die Stützen für den Wiederaufbau der trotzkistischen Strategie darstellen.“[6] Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Trotzkismus, besonders in der entscheidenden Phase um 1968, soll Schlüsse für den Aufbau einer revolutionären Partei heute liefern.

Die organisatorischen Bedingungen, unter denen die deutschen TrotzkistInnen in die Nachkriegszeit gingen, waren katastrophal. Während in Frankreich die Parti Communiste Internationaliste (PCI) während des gesamten Zweiten Weltkrieges eine kontinuierliche illegale Arbeit im besetzten Frankreich aufrechterhalten konnte, und sogar die wenig bekannte internationalistische Zeitung für Angehörige der Wehrmacht in Frankreich, Arbeiter und Soldat, herausgab, wurden die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) bereits in den Jahren 1935–36 vollständig von den Nazis zerschlagen[7]: 1940 berichtete die Auslandsleitung der Gruppe, dass von den etwa 1.000 Mitgliedern im Jahr 1933 fünfzig in die Emigration gingen, die Hälfte sich aus der Politik zurückgezogen hatte und rund 150 sich in Haft befanden.[8] Nur eine kleine illegale Gruppe in Berlin-Charlottenburg um Oskar Hippe funktionierte bis 1945[9] – und währenddessen wandte sich das Auslandskomitee der IKD vom Marxismus ab und brach schließlich 1948 mit der Vierten Internationale.[10] Somit war die Zerstörung des deutschen Trotzkismus fast vollständig.
Deutsche TrotzkistInnen in der Nachkriegszeit

Im Gegensatz zu Frankreich, wo einige hundert TrotzkistInnen ihre Aktivität nach dem Kriegsende fortsetzten, stand nach 1945 ein einziger Kader mit langjähriger Erfahrung in der ArbeiterInnenbewegung zum Wiederaufbau der deutschen Sektion der Vierten Internationale zur Verfügung: Der Hamburger Georg Jungclas (1902–1975) wurde zum „Mentor des deutschen Trotzkismus“.[11] Neben „Schorsch“ gab es auch Willy Boeppele, einen früheren KPD-Funktionär, der sich erst im Jahr 1951 den TrotzkistInnen anschloss, aber fortan eine führende Rolle in der Gruppe spielte,[12] sowie Jakob Moneta und Rudolf Segall (beide jüdischstämmige Trotzkisten, die zur Zeit des deutschen Faschismus im palästinensischen Exil lebten), die in der Nachkriegszeit neben ihrer trotzkistischen Tätigkeit auch bekannte Funktionäre von DGB-Gewerkschaften waren, weshalb sie mit ihren revolutionären Ìberzeugungen sehr zurückhaltend sein mussten.[13] Auch wenn die genaue Größe der Gruppe in den ersten Jahren der Nachkriegszeit nicht ermittelt werden kann, war sie ohne Zweifel sehr schwach aufgestellt.[14]

Die subjektive Schwäche der Gruppe war der für RevolutionärInnen objektiv schwierigen Lage im Nachkriegsdeutschland nicht gewachsen. Perry Anderson beschrieb den Druck auf marxistische Intellektuelle dort folgendermaßen: „Das Westdeutschland der Nachkriegszeit war politisch und kulturell der reaktionärste unter den großen Staaten Europas: Die marxistische Tradition hatten der nationalsozialistische Chauvinismus und die anglo-amerikanische Repression abgeschnitten, und das Proletariat verhielt sich zeitweilig passiv. In diesem Milieu, in dem die KPD verboten wurde und die SPD ausdrücklich jede Beziehung zum Marxismus abbrach, vollendete sich die Entpolitisierung des [Frankfurter] Instituts [für Sozialforschung].“[15] Anderson kritisiert die „Frankfurter Schule“ dafür, sich der akademischen Welt des kapitalistischen Deutschlands angepasst zu haben. Die kleine trotzkistische Gruppe war einem ähnlichen Anpassungsdruck ausgesetzt, nicht nur wegen ihrer Isolation, sondern vor allem wegen der angeheizten antikommunistischen Stimmung in der BRD und der Angst vor Verboten: „Obwohl sich die Verfolgungsmaßnahmen vor allem gegen die KPD [...] richten, sieht sich auch die deutsche Sektion der IV. Internationale [...] bedroht. Sie tritt nach außen nicht offen in Erscheinung“.[16]

Die Nachkriegs-IKD gab ab 1947 eine sehr kleine Zeitung heraus, und im Rahmen ihrer politischen Perspektive der „Zusammenfassung der unabhängigen linken Gruppen in einer Organisation“ engagierte sie sich in der kurzlebigen, am Tito-Regime in Jugoslawien orientierten Unabhängigen Arbeiterpartei (UAP), die im März 1951 gegründet wurde und bereits im August desselben Jahres ihre trotzkistischen Mitglieder ausschloss, um bald darauf komplett zusammenzubrechen.[17] Danach beschloss die Sektion, in Ìbereinstimmung mit den Entscheidungen des dritten Weltkongresses der Vierten Internationale im Jahr 1953, den „Entrismus sui generis“, also das langfristige Eintreten der Gruppe in die SPD und den Verzicht auf ein offen trotzkistisches Auftreten.[18] Zu diesem Zweck gab sie von 1954–66 die Zeitschrift Sozialistische Politik (SOPO) heraus, die de facto von TrotzkistInnen gemacht wurde, aber sozialdemokratische oder gewerkschaftliche Persönlichkeiten zur Mitarbeit heranzog.[19] Zusätzlich gab sie, im Rahmen einer allgemeinen Solidaritätsarbeit mit dem nationalen Befreiungskampf in Algerien, ab 1961 die Zeitschrift Freies Algerien heraus.[20] Vor allem entwickelte die Gruppe eine Arbeit innerhalb der sozialdemokratischen Jugendorganisation „Die Falken“, die „örtlich unter starkem Einfluss der TrotzkistInnen standen (namentlich in Köln und Berlin).“[21] Die einzige offen trotzkistische Publikation zu dieser Zeit war das theoretische Organ Die Internationale, die von 1956-68 in unregelmäßigen Abständen in Wien erschien.[22]

Ihre Erwartung, dass sich der Kern einer revolutionären Partei aus einem linken Flügel der SPD entwickeln würde, erwies sich als falsch, oder wie Georg Junglcas später bilanzierte, als eine „entscheidende Fehleinschätzung“.[23] Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) im Juli 1960 per Unvereinbarkeitsbeschluss aus der SPD ausgeschlossen wurde, sah sich die trotzkistische Gruppe nicht in der Lage, sich mit dem SDS zu solidarisieren – so erschienen keine Artikel dazu in der „SOPO“ wegen der Befürchtung, dass die Zeitung sonst nicht mehr in der SPD geduldet werden würde.[24] Jochen Ebmeier, ab 1963 Mitglied der Gruppe, berichtet sogar, dass es Ende 1964 zu Gesprächen der Westberliner TrotzkistInnen mit Rudi Dutschke und seiner kleinen Gruppe kam – letztere hatten mit den Ideen des Trotzkismus sympathisiert, aber lehnten die Arbeit der TrotzkistInnen in der SPD ab.[25] Dadurch entfernte sich die Sektion von der einzigen – kleinen, aber dennoch bedeutenden – Linksentwicklung in der Sozialdemokratie, die es während der 15-jährigen entristischen Arbeit gab. 1968 bemühte sich die Gruppe wieder – ohne Erfolg – die Führungsfiguren des SDS für den Trotzkismus zu gewinnen.

Die Gruppe war also an vielen Initiativen beteiligt, war allerdings über diese Initiativen hinaus kaum als trotzkistische Gruppe wahrnehmbar. Peter Brandt, der 1966 als Schüler für die Gruppe rekrutiert wurde, bestätigt, dass diese nicht einmal einen Namen hatte und nur „deutsche Sektion der Vierten Internationale“ genannt wurde.[26] Im Gegensatz dazu erschien bereits seit 1964 die Pekinger Rundschau auf Deutsch und konnte maoistischen Positionen der entstehenden Jugendbewegung in der BRD klar vermitteln.[27] Erst 1969 verließen die TrotzkistInnen endgültig die SPD und gründen eine offen nach außen tretende Organisation. Zu dem Zeitpunkt dürfte sie etwa 50 Mitglieder gehabt haben;[28] sie hatte die reaktionäre Periode der unmittelbaren Nachkriegszeit überlebt, war aber nicht nur zahlenmäßig stagniert, sondern hatte auch ihr trotzkistisches Programm aufgegeben und war damit für die neue Periode schlecht aufgestellt.
Die „schleichende Ablösung vom Entrismus“

Die Erwartungen der deutschen TrotzkistInnen an eine Radikalisierung innerhalb der SPD, an der die Gruppe durch die Entrismus-Politik teilnehmen sollte, erfüllten sich im Laufe der 60er Jahre nicht. Im Gegenteil lief die Radikalisierung aufgrund der jahrzehntelangen Kooptierung der Sozialdemokratie durch die „Sozialpartnerschaft“ der Nachkriegszeit größtenteils im Rahmen einer breiten „Außerparlamentarischen Opposition“, also fast komplett außerhalb der SPD, was eine Umorientierung der trotzkistischen Gruppe immer unerlässlicher machte. Peter Brandt schreibt rückblickend: „Faktisch waren die Jahre 1967/68 bereits eine Phase der schleichenden Ablösung vom Entrismus unter dem Einfluss der ”šJugendradikalisierung‘.“[29]

Im Jahr 1967 erschien die SchülerInnenzeitung Neuer Roter Turm an der Schadow-Schule in Berlin-Zehlendorf, nachdem die zweite Nummer der alten SchülerInnenzeitung Roter Turm wegen eines Artikels über Folter in Spanien vom Oberstudiendirektor verboten wurde. Der Skandalwert dieser Zeitung, die immer wieder in der Hauptstadtpresse und auch im Berliner Senat Erwähnung fand, steigerte sich zweifellos dadurch, dass sich unter den Redakteuren Peter Brandt, 18-jähriger Schüler und Sohn des damaligen Außenministers, befand.[30] Die Zeitung setzte sich – für die aufkommende Jugendbewegung nicht untypisch – gegen das autoritäre Bildungssystem, für sexuelle Aufklärung und gegen imperialistische Kriege ein. Die Redakteure, darunter auch einige junge Mitglieder der „deutschen Sektion“, waren bei den Falken aktiv, traten aber im folgenden Jahr aus. Bemerkenswert ist, dass in den vielfältigen Berichten über diese SchülerInnenzeitung eine trotzkistische Gruppe nirgends erwähnt wird – auch der Inhalt der Zeitung gibt keine Hinweise auf eine spezifisch trotzkistische Haltung einzelner Redakteure.

Ein Wendepunkt der Jugendbewegung in der BRD war der internationale Vietnam-Kongress, der vom 17.–18. Februar 1968 an der Technischen Universität in Westberlin stattfand. 6.000 Menschen versammelten sich im überfüllten Audimax unter einem riesigen Banner mit der Losung: „Für den Sieg der vietnamesischen Revolution!“ In Erinnerung geblieben ist die Rolle Rudi Dutschkes bei diesem Kongress – in der historischen Wahrnehmung spielen TrotzkistInnen dagegen keine Rolle. Aber Georg Jungclas schreibt, dass der „Erfolg“ des Kongresses „auf die Aktivität der Sektion zurückzuführen“ war,[31] während der Historiker Peter Brandt behauptet, dass der Kongress „organisatorisch wie inhaltlich stark trotzkistisch beeinflußt“ war.[32] Tatsächlich sprachen auf den Podien des Kongresses mindestens drei Redner, die im Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale aktiv waren, nämlich: Ernest Mandel, Tariq Ali und Robin Blackburn.[33] Zu den TrotzkistInnen aus Belgien bzw. Großbritannien kamen aber keine TrotzkistInnen aus Deutschland hinzu.

Die Trotzkisten haben sich jedoch nicht als solche präsentiert: Tariq Ali übte eine leichte Kritik an der mangelnden Unterstützung der Sowjetunion für die vietnamesische FLN, nannte Nordvietnam jedoch ein „brüderliche[s] sozialistische[s] Land“ (während der Trotzkismus immer den sozialistischen Charakter des „real existierenden Sozialismus“ bestritten hat);[34] Robin Blackburn bezeichnete sich selbst als „der gleichen revolutionären Bewegung zugehörig“ wie „die Vietnamesen, die guatemaltekischen Guerilleros und die Guerrilleros der Falcon Front [in Venezuela]“;[35] Ernest Mandel argumentierte für eine Guerilla-Strategie in Argentinien, um den Klassenkampf der ArbeiterInnen zu ergänzen (obwohl für den Trotzkismus der bewaffneten Kampf von kleinen Gruppen keine zentrale Bedeutung hat).[36] Alle drei Redner bezogen sich positiv auf die FLN und keiner übte eine Kritik am Stalinismus, weder in einer abstrakten Form noch konkret auf Ho Chi Minh bezogen. So waren ihre Beiträge eher an der Guerilla-Strategie von Che Guevara als an der Strategie des proletarischen Aufstandes von Leo Trotzki orientiert.

Zweieinhalb Jahre später schrieb die Gruppe „Spartacus“ zur Kritik an ihrer früheren Strömung, dass das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale beim Kongress „nicht anders interveniert hatte als mit einem Flugblatt – denn den uneingeweihten Teilnehmern am Vietnamkongreß dürfte weder von Ernest Mandel noch von der französischen Jeunesses Communistes Révolutionnaires (JCR [...]) mehr bekannt gewesen sein, als daß es sich dabei irgendwie um TrotzkistInnen handelte.“[37]
Die Umorientierung von 1968-69

Nach dem Vietnam-Kongress begann eine komplette Umorientierung der trotzkistischen Gruppe. Ab Mai 1968 gab die deutsche Sektion die Zeitschrift was tun zur „Organisation der strategisch-theoretischen Diskussion“ in der außerparlamentarischen Opposition heraus.[38] Zur 15-köpfigen Redaktion gehörten nicht nur Trotzkisten wie Lothar Boepple, Peter Brandt, Jochen Ebmeier, Hans-Jürgen Schulz, Wolfgang Zeller und Bernd Achterberg, sondern auch bekannte SDS-Aktivisten wie Gaston Salvatore und selbst Rudi Dutschke. In der – ausschließlich aus Männern bestehenden – Liste finden sich sogar Namen von SDS-Aktivisten, die später als Wortführer des westdeutschen Maoismus prominent wurden, etwa Christian Semmler, der später die Kommunistische Partei Deutschlands (Aufbauorganisation) (KPD(AO)) gründete, oder Thomas Schmitz-Bender, der führend im Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD aktiv war.[39]

Diese Redaktion scheint in der Form nie funktioniert zu haben, zumindest gibt es keinen einzigen Artikel von den SDSlern bzw. den späteren Maoisten. Nichtdestotrotz war die Zeitschrift nicht besonders trotzkistisch geprägt: Zwar wurde scharfe Kritik am Realsozialismus sowjetischer Prägung geäußert, doch Fidel Castro, Ho Chi Minh und Kim Sung-Il wurden gelobt; Stalin wurde dafür kritisiert, dass er die Kommunistische Internationale „zu einem Instrument der sowjetischen Außenpolitik degradiert“ hatte, doch selbst an dieser günstigen Stelle wurde die von Trotzki als Opposition zum Stalinismus gegründete Vierte Internationale nicht erwähnt.[40] Erst in der fünften Nummer von was tun erschien ein Zitat von Trotzki, in der elften Nummer wurden Auszüge aus einer Erklärung des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationalen abgedruckt und nur in der zwölften Nummer erschien ein Bild von Trotzki (nun auf der Titelseite zur Ankündigung seines Aufsatzes „Die Gewerkschaften in der Epoche des totalitären Monopolkapitalismus“). Erst mit der zwölften Nummer, also nach einem Jahr, wurde was tun offiziell von trotzkistischen Gruppen herausgegeben.[41]

Im Oktober 1968 führten Mitglieder der deutschen Sektion in Westberlin, die als Gruppe um die SchülerInnenzeitung Neuer Roter Turm arbeiteten und bereits aus den Falken ausgetreten waren, eine Spaltung im Berliner Landesverband der Falken herbei. Die „revolutionäre Tendenz in den ”šFalken‘„, also die Bezirksverbände aus Wedding und Neukölln, verließ die sozialdemokratische Organisation und gründete zusammen mit dem Neuen Roten Turm (die Gruppe bestand nach eigenen Angaben aus „gut zwanzig Mann“[42]) den „Initiativausschuß für eine revolutionäre Jugendorganisation“ mit der Perspektive, eine „unabhängige, eigenständige Organisation“ aufzubauen.[43] Diese Gruppe gab ab Januar 1969 eine neue Zeitung unter dem Namen Spartacus heraus und sprach sich bei ihrer formellen Konstituierung, zur klaren Distanzierung von ihrer Vergangenheit in der SPD, für die „Schaffung der revolutionären Partei der Arbeiterklasse“ aus, wobei der Aufbau einer revolutionären Jugendorganisation ein Schritt in diese Richtung sein sollte. Ihr Vorbild war die französische JCR, die beim Vietnam-Kongress in Westberlin viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.[44]

Schließlich bildeten diese Westberliner TrotzkistInnen, zusammen mit jüngeren Mitgliedern der Sektion aus Westdeutschland, im März 1969 eine „Bolschewistische Fraktion“ (Bolfra), die in einer internen Plattform den vollständigen Austritt aus der SPD und den bundesweiten Aufbau einer revolutionären Jugendorganisation forderten (also die Ausweitung ihrer Politik des „Initiativausschußes“ auf die gesamte Sektion).[45] Die Westberliner wollten vollendete Tatsachen schaffen, oder, wie Brandt das 45 Jahre später ausdrückte, die „Gründung war eine Eigenmächtigkeit, mit der die Berliner Gruppe der deutschen Sektion diese ins Schlepptau nehmen wollte“.[46] Dies gelang nicht, denn auf einer Konferenz der Sektion zu Pfingsten 1969 spaltete sich die Gruppe, wobei der unmittelbare Anlass die nicht explizit politische Frage war, ob Lothar Boepple die Funktion des hauptamtlichen Sekretärs der Gruppe übernehmen sollte, womit weder die Bolfra noch selbst sein Stiefvater Willy Boepple einverstanden waren. Im Rahmen dieser Spaltung zog sich Willy Boepple, der seit fast zwei Jahrzehnten neben Georg Jungclas eine führende Rolle innerhalb der Sektion gespielt hatte, aus der aktiven Politik zurück, auch wenn er eine Sympathie für die trotzkistische Bewegung beibehielt.[47] So war diese Spaltung besonders schädlich, vor allem weil die politischen Differenzen zwischen den beiden Flügeln des deutschen Trotzkismus erst nach der Konstituierung von zwei unabhängigen Gruppen ausgearbeitet wurden.
Die Auswirkungen der Spaltung

Nach der Spaltung gab es zwei trotzkistische Gruppen in der BRD, die beide von sich selbst behaupteten, die Mehrheit der alten Sektion zu vertreten, und zumindest laut Brandt „gleich stark“ waren. Die „Gruppe Internationale Marxisten“ (GIM) um Jungclas, Moneta und Schulz wurde nach einigen Monaten als deutsche Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale anerkannt.[48] Die GIM, die „anfangs nicht mehr als dreißig Mitglieder“ hatte,[49] hielt aber nicht an der entristischen Arbeit in der SPD fest, sondern ging auf die zentrale Forderung der Bolfra ein, indem sie auf der gleichen Konferenz eine unabhängige Gruppe gründete und kurz danach mit dem Aufbau einer unabhängigen Jugendorganisation namens „Revolutionär-Kommunistische Jugend“ (RKJ) begann, die im Mai 1971 als bundesweite Organisation gegründet wurde.[50] Die „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ (IKD) um Ebmeier, Brandt und Zeller griffen den traditionellen Namen der trotzkistischen Gruppe in Deutschland wieder auf und setzten ihre Arbeit zum Aufbau einer trotzkistischen, auf die Arbeiterjugend orientierte Jugendorganisation fort. Ihre „Kommunistische Jugendorganisation Spartacus“ konstituierte sich als bundesweite Organisation im März 1971.[51]

Beide Gruppen erlebten rasantes Wachstum auf bis zu jeweils 300 Mitglieder. In dieser Zeit begann vor allem die Spartacus-Gruppe, die eigene Tradition kritisch zu hinterfragen, aber nur sehr allmählich.[52] Es ist bezeichnend, dass keine der beiden Gruppen diese Spaltung in ihrer jeweiligen Presse politisch aufarbeitete oder überhaupt erwähnte – erst zwei Jahre später kommt es zu kritischen Auseinandersetzungen und Polemiken zwischen den Gruppen. Auch wenn die Entwicklung der GIM nach 1971 über den Rahmen dieser Arbeit hinausgeht, kann kurz zusammengefasst werden, dass es der GIM nicht gelang, ein klares trotzkistisches Profil zu etablieren (es finden sich unzählige Beispiele der politischen Anpassung an aktuelle Bewegungen, wie an den Beispielen von was tun und der Intervention beim Vietnam-Kongress gezeigt wurde), und 1986 mit einer maoistischen Gruppe fusionierte, was zum baldigen Untergang der fusionierten Gruppe führte.[53]

Die Spartacus-Gruppe machte verschiedene Anstrengungen, das trotzkistische Programm für die 70er Jahre zu aktualisieren, aber litt an einer starken Fokussierung auf Jugendarbeit („Jugend-Avantgardismus“), die erst 1974 – nach einer Spaltung und einer späteren Wiedervereinigung – endgültig überwunden werden konnte.[54] Schließlich ist es dieser Gruppe nie gelungen, als Alternative zum von ihr kritisierten „Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale“ eine eigene internationale politische Strömung zu finden oder aufzubauen, was zur plötzlichen Selbstauflösung des Spartacusbundes durch ihr Zentralkomitee im Jahr 1977 beitrug.[55] Ohne einen internationalen Rahmen war die Gruppe zu „einer Existenz mit ununterbrochenen inneren Krisen“[56] verurteilt, wie die GIM polemisch bereits 1971 urteilte. So entstanden nach der Spaltung zwei Gruppen, die trotz der Gewinne aus der Jugendbewegung nicht nur zahlenmäßig schwach waren, sondern nie ihr zentristisches Erbe überwinden konnten.

In der gleichen Zeit entstanden auch neue trotzkistische Gruppen in der BRD durch den Austausch mit internationalen Strömungen: etwa die „Internationale Arbeiter-Korrespondenz“ (IAK) als Teil des „Internationalen Komitees“ von Lambert und Healy, die „Voran“-Gruppe als Teil des „Komitees für eine Arbeiterinternationale“ (CWI) von Ted Grant, oder die „Sozialistische Arbeitergruppe“ (SAG) als Schwestergruppe der „International Socialists“ von Tony Cliff. Diese Gruppen bezogen sich auf Traditionen, die ebenfalls aus der zentristischen Degeneration der Vierten Internationale entstanden waren. Ohne hier die Geschichte dieser Gruppen im Detail aufarbeiten zu können, lässt sich festhalten, dass sich alle auf den Zentrismus der Vierten Internationale der Nachkriegszeit und nicht auf das revolutionäre Erbe Leo Trotzkis bezogen haben.
Schlussfolgerungen für heute

Die Politik der deutschen TrotzkistInnen bis 1968 hinderte sie daran, einen Anziehungspol für die sich radikalisierenden Jugendlichen zu bilden. Während die „Mao-Bibeln“, also die kleinen roten Bücher mit Zitaten von Mao Zedong, massenhaft vertrieben wurden, begannen trotzkistische Gruppen erst im Jahr 1970 damit, die Schriften von Trotzki zu verbreiten.[57] So erzählte ein Trotzkist, der ab 1968 an der Studierendenbewegung in Frankfurt am Main teilnahm, dass er bestimmte Bücher von Trotzki aus nicht-trotzkistischen Verlagen kannte, „aber mir war nicht bewusst, dass es damals politische Gruppen gab, die sich auf Trotzki bezogen haben.“[58] Die Entrismus-Politik machte die trotzkistische Gruppe im entscheidenden Moment praktisch unsichtbar.

Willy Boepple verteidigte den Entrismus in der SPD in einem Referat im Jahr 1988 mit dem Argument, dass es „bis weit in die sechziger Jahre hinein keine andere Möglichkeit [gegeben hätte], praktische politische Tagesarbeit zu leisten.“[59] Doch selbst wenn der Entrismus eine Möglichkeit darstellte, die reaktionäre Periode nach dem Zweiten Weltkrieg zu „überwintern“, muss festgehalten werden, dass die Gruppe nur sehr langsam aus ihrem „Winterschlaf“ erwachen konnte. Sie war nicht in der Lage, 1968 auf die geänderte Situation des Aufschwungs des weltweiten Klassenkampfes, welcher sich in Deutschland hauptsächlich in der Radikalisierung der Jugend ausdrückte, zu reagieren – und die Spaltung war ein Ausdruck davon, dass es an politischer Vorbereitung auf eine solche Wende mangelte –, womit die vorherige „Tagesarbeit“ wenig längerfristigen Wert hatte. Selbst die Strukturen, die man innerhalb der SPD aufgebaut hatte, taugten wenig für die neue Ausrichtung, mit der Folge, dass die trotzkistische Bewegung in Deutschland nach 1968 praktisch ohne historische Kontinuität, als Jugendbewegung mit einigen älteren BeraterInnen, neu aufgebaut werden musste.[60]

Doch es ging nicht nur darum, dass die TrotzkistInnen zu spät reagierten und hinter der Bühne der Revolte blieben. Sie reagierten auch mit einem Programm, das ihre vorherige Anpassung an die Sozialdemokratie und den Stalinismus in der Dritten Welt reflektierte, so dass sie nicht im allgemein radikalen Milieu politisch herausstachen. Für uns von RIO, als Teil der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale, zeigte sich, dass der weltweite Aufschwung des Klassenkampfes ab 1968 die trotzkistische Bewegung zwar stark nach links trieb, dass es allerdings hohe „Kosten der Anpassungsjahre“ gab, denn die jahrelange Anpassung an sozialdemokratische oder stalinistische Parteien hatte programmatische Spuren hinterlassen. Die TrotzkistInnen hatten zwar ein bedeutendes politisches Erbe: „Jedoch nutzten die verschiedenen trotzkistischen Strömungen die Jahre vor dem Aufstieg nicht aus, um sich dieses Vermächtnis wieder anzueignen, um den strategischen Rahmen zu definieren und revolutionäre Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung aufzubauen.“ Diese programmatische Schwäche führte dazu, dass die trotzkistischen Organisationen zwar zahlenmäßig wuchsen, sich jedoch nicht von ihrem zentristischen Erbe befreien und die revolutionäre Kontinuität wiederherstellen konnten: „Obwohl sich die Kräfte der verschiedenen trotzkistischen Strömungen am Anfang des Aufstiegs größtenteils in den Stalinismus und die Sozialdemokratie aufgelöst hatten, stärkten die Tendenzen zur Klassenunabhängigkeit, die sich in den Konfrontationen mit den offiziellen Führungen der ArbeiterInnenbewegung manifestierten, die zentristischen Strömungen des Trotzkismus, die in mehreren Fällen zu Strömungen von mehreren tausend KämpferInnen wurden (wie z.B. die Ligue Communiste in Frankreich, die nordamerikanische SWP oder in Argentinien die Entwicklung der PST in den 70er Jahren).“[61] Diese Entwicklung gab es auch in der BRD, auch wenn die Organisationen des trotzkistischen Zentrismus nur mehrere hundert und nicht mehrere tausend Mitglieder zählten.

Genau diese Politik des „Entrismus sui generis“ vor 1968 und das zentristische Programm, die dazu führte, liefert eine entscheidende Erklärung dafür, warum der Trotzkismus bis heute so schwach ist. Manche HistorikerInnen in Deutschland sind zur Schlussfolgerung gekommen, dass der Austritt der Sektion aus der SPD ein Fehler war, denn gerade in der Zeit nach 1968, als viele junge Menschen in die Sozialdemokratie geströmt sind, hätten TrotzkistInnen dort arbeiten sollen. So schreibt der ehemalige Trotzkist und heutige SPDler Peter Brandt: „Auffällig ist jedoch, daß der Entrismus gerade in einer Situation aufgegeben wurde, in der sich die Bedingungen für eine offenere Form der Arbeit in der SPD zu verbessern begannen.“[62] Brandt ist, gleichzeitig mit Ebmeier, 1974 aus dem Spartacusbund ausgetreten und in die SPD eingetreten, wo er bis heute Mitglied ist. Wolfram Klein argumentiert, die „meisten trotzkistischen Strömungen in den 1960er Jahren [haben] die Arbeit in den sozialdemokratischen Parteien gerade dann aufgegeben, als sich die Bedingungen verbesserten und sich auf die 68er-Bewegung gestürzt.“[63] Klein ist Mitglied der SAV, die zwischen 1973 und 1994 innerhalb der SPD arbeitete und nun die gleiche Politik in der Linkspartei betreibt. Nach allen Informationen, die hier gesammelt wurden, muss ihrer Einschätzung deutlich widersprochen werden: Die politische Anpassung an die SPD, die erforderlich war, um in ihr geduldet zu werden, machte die TrotzkistInnen gerade für die radikalsten Sektoren, die sie am ehesten hätte gewinnen konnten, unattraktiv.

Eine historische Bilanz des tiefen Entrismus der deutschen TrotzkistInnen in der SPD – 45 Jahre nach dem Vietnam-Kongress, der den Anfang vom Ende des entristischen Projektes markierte – ist unerlässlich, um eine revolutionäre Politik für heute zu entwickeln. Denn die größten Organisationen in der BRD, die sich auf das Erbe Leo Trotzkis beziehen, nämlich die SAV (ehemals Voran) und Marx21 (ehemals SAG und Linksruck) betreiben seit 2007 eine ähnliche Politik in der Linkspartei. Sie sind als Strömungen nicht komplett versteckt, doch sie treten für linksreformistische und nicht für revolutionär-marxistische Positionen ein, d.h. sie verstecken ihr programmatisches Selbstverständnis. Sie argumentieren, dass sie in der Linkspartei einen größeren Einfluss erringen könnten, oder – da die Linkspartei momentan viele reformistische BürokratInnen und wenige aktive Basismitglieder hat – dass bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes in der Zukunft unzählige neue Mitglieder in diese Partei strömen würden.

Eine derartige Politik, begründet mit solchen Prognosen, hatten schon die deutschen TrotzkistInnen, die von 1953 bis 1968 in der SPD gearbeitet haben. Die Ergebnisse dieser Politik waren katastrophal. Denn die EntristInnen waren nicht in der Lage, eine revolutionäre Strömung in der SPD aufzubauen – und vor allem war ihr politisches Programm nicht wahrnehmbar, als beim großen Aufschwung des Klassenkampfes ab 1968 breite Sektoren der Jugend nach revolutionären Ideen suchten. Mit einer kleinen trotzkistischen Gruppe, die im Jahr 1968 offen für die Ideen des Trotzkismus geworben hätte, würde die radikale Linke in der BRD heute möglicherweise anders aussehen.

Deswegen sind wir von RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, der Meinung, dass wir RevolutionärInnen, auch wenn wir eine äußerste taktische Flexibilität an den Tag legen, immer für ein klar revolutionäres Programm eintreten müssen. Einfluss in der Linkspartei auf der Grundlage mehr oder weniger kämpferischer linksreformistischer Positionen ist letztendlich kein Einfluss für RevolutionärInnen, wie der „Einfluss“ der deutschen TrotzkistInnen beim Vietnam-Kongress zeigte. Wir brauchen keine langfristige Verankerung in reformistischen Parteien – wir brauchen Interventionen in die Kämpfe der kämpferistischen Sektoren der ArbeiterInnen und der Jugend auf der Grundlage eines revolutionären Programms.

 

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