Seit über drei Wochen ist die Türkei im Aufruhr. Der Aufstand in Istanbul, der mit einem Protest gegen den Abriss des Gezi-Parks am Taksim-Platz – einer der letzten Grünflächen in der zubetonierten Stadt – begann, hat sich in dieser Zeit sowohl geographisch als auch politisch ausgeweitet. In allen großen Städten des Landes sind DemonstrantInnen auf die Straßen und Plätze gegangen, haben sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert und den Rücktritt des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan gefordert. Die Vehemenz, mit der um den Gezi-Park gekämpft wird, kann nur verstanden werden vor dem Hintergrund des tiefschürfenden Unmuts eines breiten Teils der Bevölkerung gegen die vorbonapartistischen Tendenzen der AKP-Regierung, d.h. gegen ihre zunehmend autoritären Züge. In diesem Sinne ist die Bewegung nur ein Katalysator einer tiefgreifenden politischen und sozialen Krise des türkischen Regimes.
Die Ereignisse des vergangenen Wochenendes sind Ausdruck dieser Krise: Noch am Freitag gab es Verhandlungen mit dem Ergebnis eines (nicht genauer bestimmten) Referendums. Darauf folgte ein Ultimatum seitens der Regierung sowie die erneute gewaltsame Räumung des Gezi-Parks und des Taksim-Platzes. Am Montag fand ein Generalstreik von mehreren wichtigen Gewerkschaftsverbänden statt, worauf die Regierung mit der Ankündigung reagierte, im Zweifelsfall die Armee einzusetzen, um die Proteste zu beenden.
Seitdem haben die Proteste allerdings größtenteils eine andere Form angenommen, die in der Radikalität einen Rückschritt darstellen und stark an die Methoden der Occupy- und Empörtenbewegung angelehnt sind. Konsequenterweise verkündete Erdogan am Dienstag seinen „Sieg“ über die Proteste.
Die aktuelle Krise in der Türkei eröffnet nichtsdestotrotz die Möglichkeit eines qualitativen Sprunges, welcher große Auswirkungen auf die gesamte Region haben könnte. Vor diesem Hintergrund ist es für RevolutionärInnen von größter Bedeutung, die politisch-programmatischen Herausforderungen zu erkennen, die die radikalen Methoden mit Straßenschlachten gegen die Polizei (die die Protestierenden mindestens bis zum letzten Wochenende entwickelt hatten) mit einem höheren politischen Inhalt füllen können. Dazu ist es notwendig, über die aktuelle Revolte hinauszugehen und eine Alternative der ArbeiterInnenklasse, der Jugend und der armen Massen zu den Modellen der türkischen Bourgeoisie aufzuzeigen. Dazu müssen aber die bisherigen Grenzen des Prozesses in der Türkei klar aufgezeigt werden.
Die Proteste zeigen die Grenzen des „türkischen Modells“
Die Regierung der AKP unter Tayyip Erdogan galt lange Zeit als Musterschüler eines (abhängigen) Modells der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung, welches in letzter Zeit sogar einen „Friedensprozess“ mit der PKK, der politischen Führung der Mehrheit der KurdInnen, begonnen hat (auch wenn dieser nur ein kosmetischer Anstrich für die Aufrechterhaltung der nationalen Unterdrückung der KurdInnen und anderer Minderheiten in der Türkei ist). Das „türkische Modell“ einer moderat-islamischen Partei im Rahmen einer säkularisierten bürgerlichen Demokratie bei Aufrechterhaltung der Abhängigkeit vom Imperialismus wurde beim Ausbruch des „arabischen Frühlings“ auch als Alternative für die arabischen Bourgeoisien und den Imperialismus angesichts Aufstände in Tunesien und Ägypten gehandelt, um die Radikalisierungstendenzen durch den Ruf nach Demokratie abzuwürgen.
Die aktuellen Proteste in der Türkei zeigen jedoch eindeutig die Grenzen dieses Modells auf, wenn es darum geht, die demokratischen und sozialen Probleme der Menschen in der Türkei und in der gesamten Region zu lösen. Zudem werden die internen Grenzen des expansionistischen Kurses der türkischen Bourgeoisie deutlich, welche sich in den letzten Jahren – insbesondere seit der vorläufigen Ablehnung eines EU-Beitritts – immer stärker als Regionalmacht etablieren will und dabei auch eine unabhängigere Position gegenüber dem US-Imperialismus einnimmt. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist jetzt in der fehlenden Rückendeckung aller imperialistischen Mächte gegenüber den aktuellen Aufständen sichtbar, welche erkannten, dass eine Schwächung der AKP einen unbequemen Partner vom Verhandlungstisch verdrängen könnte.
Ihren Aufstieg im Jahr 2002 verdankte die AKP-Regierung ihrer Leistung, die türkische Bourgeoisie im Kampf gegen den allmächtigen Militär- und Staatsapparat zu vereinigen und die politische Verselbstständigung des Militärs und des Staatsapparates zurückzudrängen. Hinzu kam eine aggressive Privatisierungspolitik, die zu einem enormen Wachstum der türkischen Wirtschaft bei gleichzeitigen sozialen Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse führte, wie nicht zuletzt der Kampf gegen die Privatisierung des staatlichen Tabakkonzerns TEKEL im Jahr 2010 zeigte. Der Aufstieg der AKP verkörperte eine Machtverschiebung innerhalb des bürgerlichen Lagers und damit auch innerhalb des türkischen Regimes. Vor allem die mit dem Militär- und Staatsapparat eng verknüpfte Istanbuler Bourgeoisie büßte einiges an ihrem Einfluss ein.
Der Militär- und Staatsapparat hatte vor diesem Wandel viele Gesetze der Regierung bürokratisch verhindert. In dieser Zeit argumentierte die AKP immer wieder, dass das Volk das letzte Sagen haben sollte und eine elitäre Minderheit gegen den Willen der Mehrheit alles blockierte. Die Forderung nach mehr Demokratie war die Kampfforderung der AKP. In letzter Zeit – vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten der Türkei – brechen aber wieder Widersprüche innerhalb der türkischen Bourgeoisie auf, die zu Spannungen innerhalb der AKP und Konflikten mit anderen Fraktionen wie der säkularen Istanbuler Bourgeoisie führen. Dabei treten auch autoritärere Züge der AKP hervor, wie sie auch in der Verschärfung religiöser Gesetze und zuletzt einem Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen ihren Ausdruck finden. Das Antlitz der Demokratisierung, welches sich die AKP zugelegt hat, entgleitet ihr daher immer mehr.
Der Kemalismus und sein organischer Ausdruck, die CHP, versucht in seinem Auftreten in den aktuellen Protesten sich als Verfechter der Demokratie zu präsentieren, indem er seinen Säkularismus gegen die „Islamisierung“ der Türkei in Stellung bringt. Dennoch ist die soziale Basis der AKP aber gerade die arme religiöse Landbevölkerung, welche die AKP als Beweis für ihre Legitimität heranzieht. Diesen Teil der Bevölkerung kann die CHP also gerade nicht mit diesem Argument gewinnen. Der Führungsanspruch des Kemalismus wird bis dato von den Massensektoren im Kampf abgelehnt, obwohl sie sicherlich sehr viele Menschen auf die Straßen mobilisieren. Die CHP will sich als eine Alternative zur Regierungspartei präsentieren, die den Widerstand in Grenzen halten kann, während sie sich gleichzeitig auf den Widerstand stützt.
Als RevolutionärInnen müssen wir jedoch klar machen, dass AKP und CHP letztlich nur zwei unterschiedliche bürgerliche Varianten darstellen, die die grundlegenden demokratischen und sozialen Probleme der Türkei – wie die Unterdrückung der nationalen Minderheiten, die Spannung zwischen dem Laizismus und den islamischen Kräften, die enormen sozialen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen Stadt und Land, und damit verbunden die Agrarfrage, die Rolle der Türkei als Regionalmacht und Vertreter der NATO im Nahen Osten, die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Imperialismus, die Unterdrückung der Frauen und der LGBT-Menschen und die religiöse Unterdrückung der AlevitInnen – nicht lösen können.
Die ArbeiterInnen, die Jugend und die armen Massen dürfen keinem Flügel der Bourgeoisie Vertrauen schenken und müssen stattdessen ein unabhängiges Programm und eine unabhängige Organisation aufbauen, welches die wirtschaftliche Grundlage dieser Probleme – der abhängige Status des türkischen Kapitalismus vom Imperialismus – beseitigt. Diese effektive Durchführung dieser Aufgabe wird die Grenzen des türkischen Regimes unweigerlich sprengen und die Notwendigkeit eines Voranschreitens zur sozialistischen Revolution aufzeigen.
Von den Plätzen zu den Betrieben!
Die hauptsächlichen ProtagonistInnen der bisherigen Proteste sind die Jugendlichen, wie schon bei den Bewegungen wie „Occupy“ oder den „Indignados“. Zu ihnen gesellen sich KünstlerInnen, die um ihre Freiräume kämpfen, Fußballfans, und angesichts der immer schärferen Repression, die drei Todesopfer gefordert hat (Abdullah Cömert, Mehmet Ayvalıtaş und Ethem Sarısülük), auch breite Teile der städtischen Unter- und Mittelschichten, sowie Teile der kurdischen Bewegung und die ArbeiterInnenbewegung.
Der Kampf ist heroisch und von den Methoden her sehr radikal, was sich in den schärfen Auseinandersetzungen mit der Polizei zeigte, welche mit Schlagstöcken Tränengas, Wasserwerfern, Schockgranaten und Gummigeschossen vorging. Am Montag, den 17. Juni, drohte der Vize-Ministerpräsident Bülent Arinc mit dem Einsatz der Armee gegen die DemonstrantInnen, falls die Polizei nicht ausreichen sollte, um die Proteste zu beenden. Und auch auf propagandistischer Ebene werden scharfe Geschütze aufgefahren: Nachdem Erdogan die Protestierenden zunächst als Çapulcu (PlündererInnen) bezeichnet hatte, sprach der türkische Europaminister am letzten Wochenende davon, dass jedeR, der/die sich nach den Verhandlungen noch auf den Plätzen aufhalte, als TerroristInnen behandelt würde. Zudem wurden hunderte Protestierende und UnterstützerInnen seit dem Wochenende verhaftet.
Die Polizei hat den Taksim-Platz und den Gezi-Park am Wochenende äußerst brutal geräumt, nachdem der Fokus der Kämpfe durch die ständige Konfrontation mit dem Repressionsapparat einerseits und die Verhandlungsversuche andererseits systematisch auf den Platz beschränkt worden war. Damit wird klar, dass die Frage nach Besetzung von Plätzen nicht militärischer Natur sein kann, sondern politisch ist: Angesichts der Feuerkraft des Gegners ist es nicht möglich, den Platz dauerhaft zu halten. Tausende besetzte Betrieben und Plätze wären für die Polizei hingegen uneinnehmbar!
Währenddessen greifen die sozialen Probleme und die autoritären Gesetze der AKP immer weiter um sich und unterstreichen die vorbonapartistischen Tendenzen des Regimes: Die Jugendarbeitslosigkeit bewegt sich um 20 Prozent, die Jugend wird von der Regierung ständig unter Druck gesetzt, das Bildungssystem platzt aus allen Nähten und Erdogan mischt sich von der Kindererziehung, über Familienplanung und bis zum Alkoholkonsum in die persönlichen Freiheiten ein. Dennoch werden solche Probleme nicht direkt in die Diskussionen um den Taksim-Widerstand hineingetragen, auch wenn sie der tiefergehende soziale Grund für die Proteste sind.
Die Hauptforderungen des Protests belaufen sich auf den endgültigen Baustopp und den Erhalt des Parks; den Rücktritt der Polizeichefs und der Gouverneure von Istanbul, Ankara und Hatay; die Freilassung der festgenommen DemonstrantInnen; das Verbot von Tränengas und ähnlichem; die volle Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit. Und auch wenn in ihrem Forderungskatalog auch Fragen der Selbst- bzw. Mitbestimmung bei der Stadtentwicklung, eine begrenzte Unterstützung von Streiks und die Forderung nach einem Ende der türkischen Kriegstreiberei zu finden sind, finden sich im Programm des Taksim-Widerstands weder eine direkte Konfrontation mit der türkischen Regierung (geschweige denn mit dem türkischen Regime) noch eine Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen, die die Konsequenz der Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft sind, welche nur durch die Befreiung vom imperialistischen Joch überwunden werden können. Dies sind die beiden großen programmatischen Grenzen der bisherigen Proteste, welche ihre Ausdehnung auf andere Bereiche der Gesellschaft, insbesondere in die Betriebe, erschweren.
Die große Grenze dieses Kampfes, nämlich der Fakt, dass die organisierte ArbeiterInnenbewegung in der Türkei, die eine große Tradition der Militanz hat, bisher nur sporadisch in die Proteste eingreift, ist direkt damit verbunden. Denn aufgrund ihrer Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess ist die ArbeiterInnenklasse, wenn sie mit ihren eigenen Kampfmethoden wie Streiks und Betriebsbesetzungen in Aktion tritt, in der Lage, das gesamte Land wesentlich effektiver lahmzulegen als es die Platzbesetzungen allein je tun könnten. In diesem Prozess könnte die ArbeiterInnenbewegung die Forderungen des Taksim-Widerstands unterstützen und gleichzeitig ihre eigenen Forderungen aufstellen, die es ermöglichen, die Proteste auf weitere unterdrückte Schichten der Bevölkerung auszuweiten.
Es gab bisher zwei große Streik- und Aktionstage: den 5. Juni, eine Woche nach dem Beginn der Proteste, und den 17. Juni, als die Gewerkschaftsverbände KESK (Zusammenschluss der Gewerkschaften im Öffentlichen Sektor) und DISK (Konföderation der Revolutionären ArbeiterInnengewerkschaften) sowie der Berufsverbände TMMOB (Union der türkischen Ingenieurs- und Architektenkammern), TTB (Türkische Ärztegewerkschaft) und TDHB (Türkische Zahnärztegewerkschaft) einen landesweiten Streik mit Mobilisierungen von zehntausenden ArbeiterInnen in mehreren Städten organisierten. Darüber hinaus haben in verschiedenen ArbeiterInnenvierteln Mobilisierungen und Demonstrationen zur Solidarität mit den Protestierenden stattgefunden, die zum Teil auch große Verkehrsadern wie die Brücke über den Bosporus in Istanbul blockiert haben.
Die Streiks und Mobilisierungen waren Ausdruck des Kampfes gegen die Repression, welcher sich zum Hauptelement der Bewegung konvertiert hat. Jedoch ist die ArbeiterInnenbewegung bisher kein organischer Teil des Taksim-Widerstands. Demgegenüber müssen RevolutionärInnen konsequent für die Verbindung zwischen der kämpfenden Jugendlichen in den Plätzen mit den AktivistInnen in den Betrieben und Fabriken kämpfen. Dies ist die Hauptaufgabe in der aktuellen Situation: Nur wenn die ArbeiterInnenklasse die Führung dieses Kampfes übernimmt, kann er von einem Hin und Her zwischen Polizei und DemonstrantInnen auf den Plätzen einen qualitativen Sprung zu einer direkten Konfrontation mit der türkischen Bourgeoisie und ihrem Staat auf der Grundlage eines wirklichen, unbefristeten politischen Generalstreiks vollführen, welcher den türkischen Kapitalismus vollständig lahmlegt und das Regime zu Fall bringt.
Die genannten Dachgewerkschaften und Berufsverbände haben aber aufgrund des niedrigen Organisationsgrads der türkischen ArbeiterInnenklasse nur eine beschränkte Mobilisierungsfähigkeit. Denn obwohl dieser Streik sicherlich das Signal ist, dass die ArbeiterInnenklasse in diesem Kampf stärker aktiv wird, hat sich die größte Dachgewerkschaft Türk-Is bisher nicht an Streikaktionen oder einem Aufruf zum Generalstreik beteiligt. Die Türk-Is-Gewerkschaftsbürokratie blockt den Druck von unten, um einen Streik zu organisieren.
Damit wird klar: Der unbefristete politische Generalstreik, welcher angesichts der Schärfe der Situation eine absolute Notwendigkeit darstellt, kann nur zustande kommen, wenn die Basismitglieder der Gewerkschaften sich auf eine Konfrontation mit ihrer Bürokratie einlassen und z.B. jegliche GewerkschaftsfunktionärInnen von ihren Ämtern entfernen, wenn sie nicht bereit sind, einen Generalstreik zu unterstützen. Dies kann zur Entstehung einer anti-bürokratischen Strömung innerhalb der Gewerkschaft führen, die die Passivität der Gewerkschaftsbürokratie überwindet, welche erklärt, dass die objektiven Grundlagen für einen Generalstreik nicht vorhanden seien. Dabei reden wir von einem Land, dass sich seit dem 28. Mai in einem Ausnahmezustand befindet!
Die Streiks am 5. und 17. Juni holte in verschiedenen Städten der Türkei ArbeiterInnen auf die Straße. Die wirtschaftlich fragile Lage der türkischen Bourgeoisie kann einen langen oder unbefristeten Generalstreik nicht aushalten. Jetzt kämpfen die Massen um das Demonstrationsrecht auf dem Taksim-Platz, aber die Gewerkschaftsbürokratie bleibt dem ganzen Aufstand entfremdet. Der Kampf um den Generalstreik innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften gegen die Gewerkschaftsbürokratie ist der Kampf um die Zukunft des Widerstandes auf dem Taksim-Platz.
Die Aufgabe der Stunde ist es, in den Gewerkschaften und Betrieben einen Kampfplan auf lokaler und landesweiter Ebene aufzustellen, der die demokratischen Forderungen gegen die Repression mit dem Kampf gegen die schlechten Arbeitsbedingungen verbindet und einen unbefristeten Generalstreik vorbereitet. Dazu sind Streik- und Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen notwendig, die die Gewerkschaftsführungen mit selbstorganisierten Mobilisierungen unter Druck setzen. Dadurch würden auch Millionen von prekarisierten ArbeiterInnen, die bisher nicht organisiert sind, in die Gewerkschaften strömen. Ein solcher Kampfplan kann zu einer hegemonialen Rolle der ArbeiterInnenklasse in dem Taksim-Widerstand führen und gleichzeitig Grundlagen für die Selbstverteidigung und Selbstorganisation der Massen legen, welche zur Entstehung einer Doppelmacht führen könnte, die den türkischen Staat konfrontiert.
Für eine revolutionäre Alternative der ArbeiterInnenklasse!
Die zentrale Frage in der Türkei ist heute: Wie können die demokratischen Forderungen der Bewegung um den Taksim-Platz von der Regierung abgerungen werden? Unserer Meinung nach ist es dazu notwendig, die Bewegung zu erweitern, indem die demokratischen Fragen direkt mit sozialen Forderungen verknüpft werden. Bisher ist diese Frage im Rahmen der Proteste nicht gestellt worden. Wenn dies nicht geschieht, wird die Bewegung an ihren programmatischen Grenzen und vor allem ihrer Isolation von der organisierten ArbeiterInnenbewegung (auch wenn letztere sie passiv wohlwollend unterstützt) scheitern.
Aus diesem Grund ist es unabdingbar, aufzuzeigen, dass weder der AKP mit ihren vorbonapartistischen Tendenzen noch die kemalistische CHP eine Alternative für die ArbeiterInnenklasse, die Jugend und die armen Massen in Stadt und Land sein können. Die politischen und sozialen Probleme, welche die tieferliegenden Gründe für die Auseinandersetzungen um den Gezi-Park sind, können nicht durch einen simplen Regierungswechsel gelöst werden (und schon gar nicht, falls die AKP an der Macht bleibt und maximal nur Erdogan ausgewechselt wird). Deswegen kann es sich, anders als viele stalinistische oder maoistische Gruppen in der Türkei und auch hier in der BRD fordern, bei dem Kampf in der Türkei nicht um ein Programm für eine „demokratische Revolution“ handeln. Denn dieses Programm lässt die Grundfesten des türkischen Kapitalismus unangetastet und kann nur eine Unterordnung unter ein altes oder neues Projekt einer Fraktion der Bourgeoisie bedeuten.
Stattdessen ist es notwendig, dass die ArbeiterInnenklasse als politisch unabhängiges Subjekt auf die Bühne tritt und ein Programm aufwirft, welches angesichts der demokratischen Hoffnungen der Massen radikaldemokratische Forderungen in Bezug auf die nationale Frage, die autokratischen Züge des Regimes, den mächtigen Militärapparat, den autoritären Laizismus usw. aufstellt und diese mit einem sozialen Programm verbindet, welche gegen die Ìberausbeutung und soziale Ungleichheit des abhängigen türkischen Kapitalismus vorgeht. Dies wird unweigerlich zu einer Konfrontation mit dem Imperialismus führen und die Notwendigkeit aufwerfen, zu einer sozialen Revolution voranzuschreiten; anders gesagt, wenn die ArbeiterInnenklasse die Hegemonie über den Kampf erlangt hat, kann sie nicht bei einer formell-demokratischen Umwälzung stehen bleiben, sondern wird an die Grenzen des bürgerlichen Regimes stoßen und dazu gezwungen sein, sie in der Logik einer permanenten Revolution umzuwerfen.
Ein solches Programm aufzuwerfen und die Wege aufzuzeigen, wie die ArbeiterInnenklasse zum „Volkstribun“ (Lenin) werden kann, welcher sich die lösung aller drängenden Probleme der Massen in der Türkei auf die Fahne schreibt, ist die Aufgabe von marxistischen RevolutionärInnen. Der Kampf um die Führung der ArbeiterInnenklasse kann nur gewonnen werden, wenn sich heute aus dem Keim des Widerstands in der Türkei eine revolutionäre Partei entwickelt, die sich dieser Aufgabe annimmt. Dies ist deshalb notwendig, weil die Erfahrungen der letzten Jahre der Krise gezeigt haben, dass die Aktion der ArbeiterInnenklasse allein noch keine lösung darstellt: In Griechenland und in geringerem Maße in anderen ländern Südeuropas haben mehrere Generalstreiks stattgefunden, die aufgrund der Politik ihrer Führungen zeitlich, räumlich und programmatisch isoliert blieben und die unvermeidliche Machtfrage nicht gestellt haben, sondern in Sackgassen endeten. Daraus folgt für uns die Aufgabe, durch den Aufbau einer revolutionären Partei den bürgerlich-nationalistischen und reformistischen Parteien und Gewerkschaftsapparaten ihre Rolle als Führungen der Massen streitig zu machen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe für die Türkei, sondern weltweit, und die radikale Linke, insbesondere diejenigen, die sich revolutionäre MarxistInnen nennen, müssen sich ihr annehmen.
Die Möglichkeit dazu besteht zweifellos: Nachdem die Massen das inhaltslose Angebot der Regierung abgelehnt haben, worauf diese die Repression verschärft hat, stehen wir vor eine Wende in diesen Kämpfen in der Türkei. Die Massen haben eigentlich minimale Forderungen gestellt, aber nicht einmal diese sind mit dieser Regierung zu erreichen. Der Kampf um den Schutz des Gezi-Parks hat daher einen grundlegend politischen Charakter. Der Widerstand der letzten Wochen hat die enorme Konfliktbereitschaft der Massen in der Türkei unter Beweis gestellt. Wir glauben daher, dass der Kampf, entgegen der selbstsicheren Ankündigung Erdogans, noch nicht verloren ist. Aber der bisherige heroische Widerstand droht nach Wochen der Auseinandersetzung mit der Polizei vor weiterer Konfrontation mit dem Staat zurückzuweichen. Doch anstatt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der vorerst gescheiterte Kampf gegen den Repressionsapparat von einem „gewaltlosen Widerstand“ abgelöst werden müsse, sind wir der Meinung, dass der Kampf stattdessen ausgeweitet werden sollte und mit den Kämpfen der ArbeiterInnenbewegung zusammengeführt werden muss. Wie schon im Spanischen Staat lautet unsere Losung: Von den Plätzen in die Betriebe!
Die unmittelbarsten Forderungen, die diese Bewegung hervorgebracht hat, können nur so der Regierung und ihrem Unterdrückungsapparat aufgezwungen werden: Gegen die Zerstörung des Gezi-Parks, Schluss mit der Privatisierung der Stadt und der öffentlichen Plätze! Um die Repression zu bekämpfen, müssen wir unsere Selbstverteidigung organisieren und Komitees aufbauen, die diese koordinieren. Dazu gehört auch der Kampf für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.
Die Regierung der AKP versucht, die Bewegung zu spalten und mit einem Teil von ihr Verhandlungen zu führen. Doch wir haben schon zu Genüge gesehen, dass wir von ihr nichts erwarten können außer Repression und Tod. Deshalb sagen wir: Nieder mit Erdogan und der AKP! Dennoch steht auch der Kemalismus nur für eine Demokratie der Reichen und eine Politik der Ermordung sozialer KämpferInnen, der nationalen Unterdrückung und der Perspektivlosigkeit für die Jugend. Deshalb brauchen wir eine Perspektive der ArbeiterInnenklasse, die von jedem Projekt der Bourgeoisie unabhängig ist. Die AKP und die CHP sind nur Handlanger des Imperialismus und werden nie die grundlegenden Probleme der Bevölkerung in der Türkei lösen können; das kann nur die Befreiung vom Joch des Imperialismus. In diesem Sinne sind wir auch für die Zerschlagung der NATO.
Eine solche Perspektive der Klassenunabhängigkeit, die sowohl den aktuellen Kampf gewinnen als auch eine Perspektive darüber hinaus aufzeigen kann, kann nicht durch das Vertrauen in die bürgerliche Demokratie entstehen. Dagegen setzen wir auf eine Demokratie von unten, d.h. auf die Selbstorganisation mittels Selbstverteidigungs-, Aktions- und Streikkomitees in jedem Betrieb, jeder Fabrik, jeder Nachbarschaft, die den Kampf gegen die Repression organisieren und die politischen Perspektiven diskutieren, unabhängig von der Regierung und jeglichen staatlichen Institutionen. In den letzten Tagen haben sich vermehrt Diskussionsforen zur Debatte über eine Perspektive auf den Plätzen entwickelt. Diese Foren müssen zu wirklichen Komitees und Versammlungen werden, die einen kollektiven Kampfplan entscheiden.
Der Kampf, der mit der Verteidigung eines öffentlichen Platzes begonnen hat, zeigte eine tiefgründige Unzufriedenheit der unterdrückten Sektoren mit diesem Regime. Um diesen Kampf zu gewinnen, muss der Protest vielmehr einen Ausdruck in einem Programm finden, welches die unmittelbaren Forderungen des aktuellen Kampfs mit den Forderungen der solidarischen Sektoren verbindet, wie die Verhinderung von Kündigungen, die sofortige Erhöhung des Mindestlohns, die Verteilung der vorhandenen Arbeit auf alle Schultern ohne Lohnkürzung und eine gleitende Skala der löhne zum Kampf gegen die Inflation.
Um diese Forderungen zu verwirklichen ist es notwendig, dass die ArbeiterInnenklasse, die die einzige revolutionäre Klasse ist, systematisch in den Kampf eintritt und sich mit ihren eigenen Methoden der Streiks und Besetzungen an die Spitze dieser Bewegung setzt. Dazu ist ein wirklicher, unbefristeter politischer Generalstreik notwendig, der die wirtschaftlichen Grundlagen des türkischen Regimes erschüttert. Dafür muss ein Kampfplan aufgestellt werden, der im Zweifelsfall gegen die Bürokratie durchgesetzt werden muss.
Mit dieser Perspektive kämpfen wir für den Aufbau einer revolutionären Partei, die entgegen der reformistischen und stalinistischen Führungen kein Vertrauen in die bürgerliche Demokratie schürt. Nur eine Perspektive der permanenten Revolution kann die demokratischen Aufgaben in der Türkei heute tatsächlich lösen, da die Bourgeoisie – dies haben die Ereignisse des arabischen Frühlings erneut bewiesen – durch ihre Verbindung mit dem Imperialismus kein Interesse an der lösung dieser Fragen hat.
Die wirtschaftliche Lage in der Türkei
Die Türkei zählt zu den stärkeren Halbkolonien des Imperialismus. Die langjährigen hohen Wachstumsraten (von denen die Bevölkerung allerdings nicht viel abbekam) sind auch die zentrale Grundlage der Macht der AKP. Inzwischen wird die Türkei von der Entwicklung der weltweiten kapitalistischen Krise eingeholt, die Wirtschaftsentwicklung schwankt. Das Außenhandelsdefizit im April 2013 wuchs auf 55,1%, also auf 10 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2011 hatte die Türkei mit -8% das größte Leistungsbilanzdefizit aller Staaten. Im Januar 2012 war das Leistungsbilanzdefizit sogar zweistellig (-10%) und das höchste aller G-20 Staaten. Die türkische Bourgeoisie versucht deshalb, die türkische Lira abzuwerten. Die ökonomisch wichtigen Megabauprojekte und die Exportwirtschaft verursachen hohe Lohnkosten, weshalb die Bourgeoisie und ihre Regierung Angriff um Angriff auf die ArbeiterInnenklasse führt, wie Rentenkürzungen oder die Abschaffung von Abfindungen bei Entlassungen. Entlang dieser Achsen sieht die herrschende Klasse so gut wie keinen Spielraum, und sie fürchtet, dass bereits kleine Zugeständnisse gegenüber der jetzigen Bewegung eine Menge Beschränkungen für die Wirtschaft nach sich ziehen könnte. Am 3. Juni, dem Montag nach dem Wochenende der ersten Massenaktionen, fiel die Istanbuler Börse um 10,47%, und seitdem kann sie diesen Fall nicht auffangen.
|