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Merkel: Ein Koloss auf tönernen Füßen
von : Stefan Schneider

27 Sep 2013 | Vor der diesjährigen Bundestagswahl meinten viele KommentatorInnen, den langweiligsten Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik zu erleben: Alles schien schon im Vorhinein klar zu sein – und das in einer Situation der Wirtschaftskrise, die in Europa zuvor knapp 20 Regierungen zu Fall gebracht (...)
Merkel: Ein Koloss auf tönernen Füßen

Vor der diesjährigen Bundestagswahl meinten viele KommentatorInnen, den langweiligsten Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik zu erleben: Alles schien schon im Vorhinein klar zu sein – und das in einer Situation der Wirtschaftskrise, die in Europa zuvor knapp 20 Regierungen zu Fall gebracht hatte. Doch so langweilig der Wahlkampf auch gewesen sein mag, das Resultat der Bundestagswahl 2013 brachte viele Ìberraschungen mit sich, die teilweise historisches Ausmaß besitzen und die die Situation des deutschen Regimes mindestens seit der Wiedervereinigung durcheinander bringen.

An allererster Stelle steht dabei natürlich das historische Abschneiden der CDU/CSU, die mit 41,5% das höchste Wahlergebnis seit dem Mauerfall einfuhren und nur knapp an der absoluten Mehrheit der Parlamentssitze vorbei schrammten, was es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nur einmal gab, nämlich 1957 unter Konrad Adenauer.

Doch auch zwei weitere Ergebnisse haben die deutsche Parteienlandschaft erschüttert: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte flog die neoliberale FDP mit 4,8% der gültigen Stimmen aus dem Parlament. Dabei ist diese Niederlage nicht irgendeine. Mit der FDP verliert die deutsche Bourgeoisie eine Stimme, die immer wieder zu Angriffen auf die Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse und der Jugend blies. Sie war stets die „Scharfmacherin“ des bundesrepublikanischen Regimes. Folgerichtig wurde sie auch von breiten Teilen der Bevölkerung zum Hauptverantwortlichen für die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gemacht. Nun ist unklar, was die FDP aus dieser historischen Krise ihrer Partei macht. Die deutsche Bourgeoisie wird sich vorerst einen neuen Kampfhund suchen müssen. Die gesamte Parteispitze um Parteichef Philipp Rösler trat bereits zurück, weitere Rücktrittsankündigungen wurden schon ausgesprochen.

Während viele der enttäuschten FDP-WählerInnen zur Union gingen, haben sie jedoch auch eine weitere Kraft gestärkt, die für die dritte Ìberraschung der diesjährigen Wahl gesorgt hat: Die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“, die erst zu Beginn des Jahres durch eine Reihe konservativer Intellektueller, WirtschaftsprofessorInnen und mittelständischen UnternehmerInnen gegründet worden war und mit einem nationalistisch-protektionistischen Anti-Euro-Kurs zur Wahl antrat, verfehlte mit 4,7% nur knapp den Einzug ins Parlament. Der Aufstieg der AfD reiht sich ein in die Stärkung rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien in ganz Europa durch die Krise, und wenn die Eurokrise weiterhin ungelöst bleibt, könnten die AfD oder noch weiter rechts stehende Varianten weiter gestärkt werden. Jedenfalls deutet alles darauf hin, dass die AfD seit Jahrzehnten die erste Partei sein könnte, die erfolgreich einen Platz rechts von der Union besetzen und die nationalistisch-konservative Intelligenzija mit einer rechtspopulistischen bis rechtsextremen Basis verbinden könnte. Als solche wird sie einen massiven Druck auf die konservativsten Teile der Union ausüben.

Das erste Fazit der Bundestagswahl 2013 ist also eine überwältigende Stärkung der CDU/CSU und vor allem Merkels und eines nationalistischen, chauvinistischen Geistes in Deutschland insgesamt, der weitere Attacken auf den Lebensstandard der Menschen in Europa vorankündigt.

Trügerische Stabilität

Die vor der Wahl verbreitete Stimmung der Ruhe auf europäischer Ebene und die relative Stabilität des deutschen Regimes, die sich daraus ergibt, dass die deutsche Bourgeoisie bisher durch die Unterwerfung der südeuropäischen länder ein hartes Einschlagen der Krise vermeiden konnte und sogar kurzfristig ein leichtes Wachstum verzeichnen kann, ist aber nicht für ewig. Auch wenn sich diese Stabilität direkt nach den Wahlen kurzfristig verstärken möge, gibt es eine Reihe von Gründen, die zeigen, dass sie vielleicht sogar mehr als zuvor gefährdet ist. Der Koloss Merkel steht auf tönernen Füßen, nicht zuletzt, weil die klaren Mehrheiten früherer Zeiten längst passé sind, durch den Absturz der FDP und den Aufstieg neuer Parteien.

So kann die grandiose Niederlage der FDP die Union nicht kalt lassen: Sie hat ihren organischen Koalitionspartner verloren und damit für viele, auch innerhalb der Partei, das wirtschaftsliberale „Korrektiv“ zu einer befürchteten „Sozialdemokratisierung“ der Union. Viele Stimmen aus der Wirtschaft zeigten sich dementsprechend bestürzt über das Abschneiden der FDP. Insofern wird das Scheitern der FDP die Spannungen innerhalb der Union verstärken, genauso wie es die AfD auf ihre Weise tun wird. Hier kommt auch der „Merkel-Faktor“ ins Spiel: Die mehr als 18 Mio. Stimmen für die Union sind vor allem Stimmen für Merkel. Umfragen zeigen, dass nur ein Bruchteil der WählerInnen die Union wegen ihres Programms gewählt hat. Der „Merkel-Faktor“ bedeutet dabei zweierlei, zum Einen die quasi-bonapartistische Position, die Merkel in der CDU erobert hat, als einzige Person, die über den Flügelkämpfen der CDU steht, die sich nach der Wahl verstärken werden; zum Anderen sind die WählerInnenstimmen für Merkel vor allem Stimmen der „Stabilität“, oder besser gesagt der Sicherheit des Erwartbaren, des Vertrauten. Man fühlt sich gespenstisch an Adenauers Diktum „Keine Experimente!“ erinnert. Doch Sicherheit, Stabilität ist in Mitten der Krise langfristig unmöglich, da die strukturellen Probleme der Eurozone und der Weltwirtschaft insgesamt und die Frage, wer die überwältigenden Kosten der Krise, die bisher aufgeschoben wurden, letztlich zu tragen hat, immer noch nicht beantwortet sind.

Im Gegenteil sind sowohl im Inland als auch im Ausland erhöhte Spannungen zu erwarten. Die fast sichere Große Koalition mit der SPD, die nach 2009 bei dieser Bundestagswahl mit knapp über 25% das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren hat, wird nun vor Entscheidungen stehen, die ihren inneren Zusammenhalt immer wieder bis aufs Äußerste anspannen werden. Dies gilt sicher für die CDU, die in einer Koalition mit der SPD nicht die gleiche Dominanz ausüben können wird und dafür immer wieder von den konservativsten Teilen ihrer Basis und dem Schreckgespenst der AfD unter Druck gesetzt werden wird. Dies gilt aber wahrscheinlich noch mehr für die SPD, die in einer Großen Koalition vor der Zerreißprobe steht, die Krisenpolitik Merkels noch stärker mitzutragen als bisher (in den unzähligen Parlamentsabstimmungen zur Eurokrise, in denen es seit Jahren de facto eine Große Koalition gibt) und gleichzeitig die Erosion ihrer eigenen Basis zu verhindern, wie es schon mit der Agenda 2010 und mit der letzten Großen Koalition von 2005 bis 2009 der Fall war, die zum bisherigen historischen Tiefpunkt der SPD und zum Aufstieg der Linkspartei geführt hatte. In einer Großen Koalition wird die Linkspartei die SPD stark unter Druck setzen, wie sie es jetzt schon mit dem Vorschlag begonnen hat, im Parlament unverzüglich einen Mindestlohn abzustimmen.

Hier steht auch die Verbindung der SPD mit den Gewerkschaften auf dem Spiel, denn auch wenn die Gewerkschaftsspitzen sich offiziell um Neutralität gegenüber CDU und SPD bemühen, ist der Großteil der Gewerkschaftsapparate noch sozialdemokratisch geprägt, was sich nicht zuletzt auch darin ausdrückt, dass unter der Gewerkschaftsbasis mit 35,9% der Stimmen weiterhin die SPD dominiert, auch wenn die Linkspartei dort inzwischen auf 11% kommt – eine Entwicklung, die sich in einer Großen Koalition noch verschärfen könnte. Hinzu kommt auch die problematische Situation des Bundesrates, in der keine mögliche Regierungskoalition eine Mehrheit besäße und sich somit auf ständige Kompromisse mit den Grünen und der FDP einlassen werden muss.

Im Ausland steht der deutsche Imperialismus aufgrund seiner dominanten Rolle in Europa weiterhin vor der Herausforderung, endlich die politische, wirtschaftliche und damit auch finanzielle Verantwortung für den gesamten europäischen Raum auszufüllen, gegen die sich die deutsche Bourgeoisie seit Jahren immer wieder sträubt, weil sie bedeuten würde, die kurzfristigen Profitinteressen des deutschen Kapitals zumindest ein Stück weit aufzugeben. Dieser Druck ergibt sich aus der Dynamik der Krise selbst und wird beispielsweise von Seiten der USA immer weiter verstärkt. Das Auftreten der AfD ist letztlich ein Zeichen für den Widerstand von Teilen des Kapitals gegen diesen Kurs. Wenn die Große Koalition diesen Weg einschlägt, werden sich aber die zwischenstaatlichen Spannungen, insbesondere mit Frankreich, massiv verschärfen. Schäuble hatte vor der Wahl schon die Notwendigkeit eines weiteren „Rettungspaketes“ für Griechenland, also weiterer Attacken auf die Souveränität des Landes, angekündigt.

Welche Alternative?

In einer solchen Situation, in der die Große Koalition die historische Aufgabe des deutschen Kapitals durchzuführen gewillt wäre, ergibt sich links davon eine große politische Lücke. Diese Lücke könnte den kleinbürgerlichen und reformistischen Parteien wie die Grünen und die Linkspartei, die bei dieser Wahl letztlich keine Rolle gespielt haben (wofür die Grünen auch mit dem Rücktritt ihrer gesamten Parteispitze bezahlten), größeren Spielraum ermöglichen.

Das schlechte Abschneiden der Linkspartei bei dieser Wahl, die von der permanenten schwarz-gelben Regierungskrise trotz ihres relativ linken Wahlkampfes nicht nur nicht profitieren konnte, sondern sogar 3 Prozentpunkte verloren hat (und die sich jetzt trotzdem als „drittstärkste Kraft in Deutschland“ feiert), zeigt indes, dass ein Projekt, welches auf die Durchsetzung lauwarmer Reformen im Parlament setzt anstatt auf Mobilisierungen auf der Straße, keine Grundlage für eine Partei sein kann, die eine echte Kampfansage an die arbeiterInnen-feindliche Politik der kommenden Regierung formuliert. Zwar hat die Linkspartei bspw. unter GewerkschafterInnen weiterhin überproportional Stimmen geholt, aber gerade hier im Vergleich zu 2009 auch überproportional an Stimmen verloren. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass die SPD stets eine Regierungsbildung mit der Linkspartei abgelehnt hat und viele, die Schwarz-Gelb abwählen wollten, deshalb eher ein Kreuz bei der SPD gemacht haben. Doch es ist auch ein Zeichen dafür, dass die ständige Betonung der Linksparteispitze, unbedingt an der Regierung teilnehmen zu wollen, aufgrund der Erfahrungen verschiedener Landesregierungen mit SPD und Linkspartei skeptisch gesehen wird – denn dort zeigten auch die LinksreformistInnen, dass sie neoliberale Politiken unterstützen, wenn sie den kapitalistischen Staat mitverwalten. Gerade in Zeiten politischer Polarisierung auf internationaler Ebene müssen wir MarxistInnen deshalb zum Einen die passive linksreformistische Politik aufs Schärfste verurteilen, weil sie die Massen nicht auf den Widerstand vorbereitet, und zum Anderen ganz klar aufzeigen, dass der Reformismus an der Regierung keine Antwort auf die Probleme der arbeitenden Bevölkerung sein kann.

Es lässt sich ohne Weiteres sagen, dass die vermeintliche Stabilität, die das hohe Wahlergebnis der Union mit sich bringe, sich paradoxerweise gerade in ihr Gegenteil verkehren könnte. Wir stehen zwar mit Merkel an der Spitze vor einer Regierung der Kontinuität, doch diese Kontinuität ist selbst mit vielen Widersprüchen behaftet, die zu größeren politischen und sozialen Erdbeben in Europa, aber auch in Deutschland selbst führen werden. Die wachsende Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Wohnungsnot, die Altersarmut und der grassierende Chauvinismus bedeuten, dass die arbeitenden Massen, die RentnerInnen, MigrantInnen, die Frauen und die Jugend ein konkretes Programm gegen die Krise der KapitalistInnen brauchen, dass innerhalb der gesamten Linken diskutiert werden muss.

Unsere wichtigsten Verbündeten sind dabei die Sektoren der ArbeiterInnenklasse, die in den letzten Jahren gesagt haben, „es reicht!“, und begonnen haben, für ihre Rechte, für ihre Lebensbedingungen zu kämpfen. Nicht umsonst haben alle Parteien im Wahlkampf soziale Themen wie den Mindestlohn, die Wohnungspreise, die Lebensbedingungen der Massen in den Mittelpunkt gestellt. Dies zeigt, dass die Kämpfe der letzten Jahre längst nicht mehr isoliert sind, sondern breit gefühlte gesellschaftliche Fragen darstellen. Die aktuell kämpfenden KollegInnen von Amazon, vom Einzelhandel, die Berliner LehrerInnen, die KollegInnen von Opel Bochum, die kürzlich in einen wilden Streik getreten sind, die geflüchteten Non-Citizens, die Solidarität von den deutschen Gewerkschaften einfordern; all sie sind Vorboten allgemeinerer Auseinandersetzungen, die wir RevolutionärInnen mit all unseren Kräften unterstützen müssen, gegen das Kapital, gegen die Regierung, und nicht zuletzt auch gegen die versöhnlerische Gewerkschaftsbürokratie.

Diese Aufgaben erfordern von uns ein klares Programm der Klassenunabhängigkeit, der Alternative der ArbeiterInnen und der Jugend gegen die Krise und den Imperialismus, gegen Prekarisierung, Diskriminierung und die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen, ein revolutionäres internationalistisches Programm als Grundlage des Kampfes für eine unabhängige, revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse. Wir von RIO werfen unser bescheidenes Gewicht in die Waagschale, um diese Perspektive zu stärken, die für die ArbeiterInnenklasse und die Jugend in Europa und weltweit lebensnotwendig ist.

 

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