// Der Mauerfall stärkte die imperialistischen Ambitionen der deutschen Bourgeoisie. //
Nicht erst seitdem Bundespräsident Joachim Gauck im Februar dieses Jahres auf der Münchener Sicherheitskonferenz der NATO herausposaunte, dass Deutschland sich mehr einmischen müsse in der Welt – und zwar auch militärisch –, stehen die Zeichen des deutschen Imperialismus auf Expansion. Der Auftritt Gaucks und das mediale Säbelrasseln der letzten Monate, welches erst kürzlich in einer Kampagne für mehr Geld zur Aufrüstung der Bundeswehr und zur Stärkung der deutschen Rüstungslobby gipfelte, waren nicht etwa Ausdruck eines Kurswechsels im imperialistischen Projekt der deutschen Bourgeoisie. Vielmehr handelt es sich um einen weiteren Schritt in der Rückkehr des deutschen Imperialismus auf die Weltbühne seit dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren.
Der Mauerfall, der zu Beginn ein Symbol demokratischer Hoffnungen und Folge einer Massenbewegung auf den Straßen der DDR war, musste nicht zwangsläufig zur Wiederherstellung der imperialistischen Ambitionen der BRD-Bourgeoisie führen. Nach dem 9. November 1989 wurde der beginnende revolutionäre Prozess gegen das bürokratische Regime der DDR jedoch in die Irre geleitet und zu einer kapitalistischen, „demokratischen“ Konterrevolution geführt. So konnte dem Mauerfall ein Jahr später die sogenannte „Wiedervereinigung“ folgen, die allerdings weit davon entfernt war, eine freiwillige Union unter Gleichen gewesen zu sein. Vielmehr handelte es sich um eine Annexion einer armen (wenn auch nicht völlig wirtschaftsschwachen) Region und ihre forcierte Wiedereingliederung in das kapitalistische System und die imperialistische NATO-Front. Die Wiedervereinigung endete so letztlich im Sieg der kapitalistischen Konterrevolution über den stalinistischen Ostblock.
Dabei war die Massenbewegung in der DDR nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch nach der erneuten Unterjochung unter kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. Vielmehr drückte sie – als Produkt der Krise im ganzen Ostblock und der Dekadenz der DDR-Bürokratie – genuine demokratische Forderungen aus, die der Stalinismus, der im Ostblock bürokratisch degenerierte ArbeiterInnenstaaten erschaffen hatte, nicht erfüllen konnte. Eine revolutionäre Partei hätte diese demokratischen Forderungen in eine politische Revolution gegen die Bürokratie führen müssen, doch stattdessen konnte sie der Imperialismus für seine Zwecke nutzen. Die Rolle der sowjetischen Bürokratie unter Gorbatschow kann in diesem Prozess nicht unterschätzt werden, denn schon 1986 hatte die sogenannte „Perestroika“-Politik Gorbatschows begonnen, den Weg zu einer kapitalistischen Restauration der bürokratischen Planwirtschaften zu ebnen.
Folge der Annexion waren für die Massen in der ex-DDR nicht etwa „blühende Landschaften“, wie es ihnen der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen hatte, sondern vor allem Inflation, Privatisierung, Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit. Noch heute verdienen die ArbeiterInnen in Ostdeutschland im Durchschnitt über 20% weniger als ihre KollegInnen im Westen (in der Privatwirtschaft sind es zum Teil sogar bis zu 40%, während die löhne in der öffentlichen Verwaltung stärker angeglichen sind). Auch die Arbeitslosigkeit ist durchschnittlich fast doppelt so hoch.
Die Annexion der ehemaligen DDR bedeutete für den deutschen Imperialismus einen großen Sprung vorwärts in der Wiedererlangung einer wirtschaftlichen und politischen Macht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschnitten worden war. Die Teilung des Deutschen Reichs durch die Alliierten in vier Besatzungszonen im Jahr 1945 hatte den Ansprüchen des deutschen Imperialismus einen großen Dämpfer versetzt. Doch die Westsektoren und die spätere Bundesrepublik konnten durch die massive Subventionierung durch den US-Imperialismus mittels Marshall-Plan und anderen Instrumenten schnell wieder an wirtschaftlicher Stärke gewinnen, die im sogenannten „Wirtschaftswunder“ ihren Ausdruck fand. Im sowjetischen Sektor bzw. der späteren DDR konnte die wirtschaftliche Erholung, vor allem auf Grund der Kriegszerstörung in der Sowjetunion, die eine wirtschaftliche Hilfe für die DDR schwieriger machte, nicht ganz so schnell vonstatten gehen. Doch die Systemkonkurrenz sorgte auf beiden Seiten der Grenzen, vor allem in Westdeutschland, für große Zugeständnisse an die arbeitenden Massen. Die Lohnentwicklung der 50er und 60er Jahre in Westdeutschland wäre ohne den politischen Druck, den die schiere Existenz eines nicht-kapitalistischen Staates auf der anderen Seite der Grenze ausübte, undenkbar gewesen. Gleichzeitig wurden die Lohnforderungen des DDR-Proletariats zum Teil blutig niedergehalten, wie die Zerschlagung des ArbeiterInnenaufstandes am 17. Juni 1953 durch sowjetische Panzer beispielhaft aufzeigt.
Die Annexion der DDR hatte unmittelbare Auswirkungen auf die westdeutsche Wirtschaft. Schon seit Amtsantritt hatte die Kohl-Regierung ein ähnliches neoliberales Privatisierungsparadigma wie Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien verfolgt, um die Wirtschaft umzustrukturieren, die mit der Weltwirtschaftskrise ab 1973 die Grenzen ihres Wachstums aufgezeigt hatte. Mit der Angliederung der DDR-Gebiete an den westdeutschen Wirtschaftsraum ergaben sich ganz neue Märkte und Investitionsmöglichkeiten, wie durch die rasante Privatisierung ehemaliger Staats- und Genossenschaftsbetriebe zu Billigpreisen und die plötzliche Existenz eines riesigen Niedriglohnheers, welches bis heute den Preis der Ware Arbeitskraft im internationalen Vergleich auf einem sehr geringen Niveau hält. Die damals begonnene Politik gipfelte dann 2003/04 in der Agenda 2010, die eine beispiellose Prekarisierung und Verschlechterung der Lebensbedingungen breiter Massen bedeutete. Die deutsche Einheit stellte damit einen zentralen Baustein im langfristigen Projekt des deutschen Imperialismus dar, einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt zu beherrschen. Mit der Weltwirtschaftskrise seit 2008 ist er einerseits diesem Ziel näher gekommen als je zuvor, gleichzeitig wurden die Grenzen eines solchen europäischen Projekts unter deutscher Führung mehr als deutlich.
Auch politisch war mit der Einheit die Zurückhaltung seit dem Zweiten Weltkrieg im Prinzip vorbei. Für die deutsche Bourgeoisie bedeutete das Ende der Teilung die Rückkehr auf die politische Weltbühne. Gleichwohl war klar, dass Deutschland nicht über Nacht aus dem Schatten der USA und Frankreichs heraustreten würde. Das Verhältnis zu den anderen imperialistischen Mächten, die in Folge der Kriegsniederlage schwache militärische Ausgangslage, sowie die antimilitaristische Tradition in der deutschen Bevölkerung (in West wie Ost) machten eine sofortige Rückkehr zum deutschen Militarismus – die auch finanziell kaum tragbar gewesen wäre – schwer durchsetzbar. Gleichwohl begann bereits unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine Debatte über Bundeswehreinsätze außerhalb der NATO-Gebiete. Schon im Zweiten Golfkrieg und der Operation Desert Storm im Jahr 1991 wurden deutsche Kampftrupps eingesetzt, es folgten in den 90er Jahren Einsätze auf dem Balkan, in Somalia und anderen ländern. Im Jahr 1999 war die Bundeswehr führender Akteur im Kosovo-Krieg und seit dem 11. September 2001 ist sie regelmäßig im Nahen und Mittleren Osten präsent.
Die Debatten dieses Jahres um eine Intervention in der Ukraine und in Syrien stellen – neben dem Kosovo-Krieg – die bisherigen Höhepunkte des Strebens nach mehr militärischem Engagement dar. Doch sie zeigten auch die Widersprüche des deutschen Imperialismus auf: Deutschland ist inzwischen zu stark, um sich ohne weiteres den Diktaten der USA unterzuordnen, allerdings weiterhin zu schwach, um eine völlig eigenständige Rolle spielen zu können. Das führt auch zu Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse der BRD, wie sie gerade in der Ukraine-Krise sichtbar wurden und sich immer mehr vertiefen: Während ein Teil der deutschen Bourgeoisie eine stärkere Konfrontation gegenüber Russland fordert, ist ein anderer um seine Profite besorgt. Zudem bekundet die Regierung immer wieder einen stärkeren militärischen Anspruch, ließ aber noch vergleichsweise wenige Taten folgen – selbst die Aufrüstung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee stockt noch. Und so bleibt Deutschland auf internationaler Ebene stärker in einer vermittelnden Rolle, die allerdings aufgrund widerstreitender Interessen immer schwieriger wird, sodass sich die Frage stellt: Wie lange noch?
Eines ist jedenfalls heute, 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, mehr als deutlich: Weit davon entfernt, der Bevölkerung auf beiden Seiten der Mauer „blühende Landschaften“ zu garantieren, stellte die deutsche Einheit den zentralen Schritt zur Wiederherstellung des deutschen Hegemonieprojekts dar – auf Kosten der breiten Masse der Bevölkerung in Deutschland, Europa und der Welt. Was Karl Marx damals in Bezug auf die gescheiterte 1848er Revolution analysierte, könnte für den Fall der Mauer und seine Auswirkungen bis heute nicht richtiger sein: Die herrschende Klasse antwortete „auf die halbe Revolution mit einer ganzen Konterrevolution.“
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