Der Bildungsstreik
Bildungsproteste und die Wirtschaftskrise
22/08/2010
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise haben die ohnehin schon problematische Lage der Jugend weiter verschlimmert. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, die weit hinter der des spanischen Staates, Griechenlands oder Italiens zurückliegt, belief sich im Oktober 2009 auf 7,7%. Hierbei handelt es sich offiziell um einen Anstieg seit Beginn der Krise um 12%. In Berlin erreicht die Jugendarbeitslosigkeit 20%, und 28% der Menschen zwischen 16 und 24 Jahren leben in relativer Armut[20]. Die Arbeitslosigkeit trifft vor allem die proletarische Jugend, besonders MigrantInnen mit geringem Bildungsniveau, hängt jedoch auch wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Jugend des Kleinbürgertums. So brachten die Studierendenproteste die Verzweiflung eines Teils des Mittelstandes und Kleinbürgertums zum Ausdruck, die die Aufrechterhaltung ihres sozialen Status und desjenigen ihrer Söhne und Töchter für immer schwieriger halten. Sie stellen eine erste Reaktion der Jugend auf die Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut dar.
Die bürgerliche Romantik, welche die Jugend als "die glücklichste Zeit des Lebens" ansieht, gilt auch in den reichen imperialistischen ländern nur den Kindern der Bourgeoisie und des gehobenen Kleinbürgertums. Die Krise offenbart das Versteckte: Die kapitalistische Realität bringt auch viele Jugendliche zurück auf den Boden der kapitalistischen Verwertungslogik. Heute gibt es im imperialistischen Deutschland, einem der reichsten länder der Welt, nicht mal genügend Plätze in Kindergärten. Diejenigen, die sich einen Studienplatz ergattern, werden in überfüllte Hörsäle gezwungen, in denen es so gut wie unmöglich ist zu lernen. Bei ArbeiterInnenkindern und Jugendlichen aus EinwandererInnenfamilien zeigt sich ein noch düstereres Bild: „Konnten 1995 noch 51,2 Prozent aller Jugendlichen (inklusive RealschülerInnen und AbiturientInnen), die kein Studium aufnahmen, eine betriebliche Ausbildung antreten, waren es 2005 nur noch 42,8 Prozent. Gleichzeitig schnellte der Anteil derjenigen, die in einer Ìbergangsmaßnahme landeten, von 31,9 auf 40,3 Prozent hoch. Diese Entwicklung ist fast ausschließlich auf Kosten der Hauptschüler gegangen.“[21]
Denn „Auch die Berufsbildung wurde, den Leitbildern einer modernen Arbeitsorganisation und einer flexiblen Berufskarriere folgend, umfassend reformiert und zu Grundberufen mit breiter Basisqualifikation zusammengefasst. (...) Die Hauptschulabsolventen, darunter insbesondere Jugendliche aus Einwandererfamilien, konkurrieren mit Absolventen der anderen Schultypen um die knappen Ausbildungsstellen – mit abnehmendem Erfolg. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Auszubildende. Viele Schulabgänger bringen nicht mehr die notwendigen Voraussetzungen zum Erlernen eines Berufs mit sich.“[22] Die Konkurrenz und Selektion zwischen den SchülerInnen wird dabei maßgeblich vom gegliederten Schulsystem vorangetrieben (vgl. dazu unseren Extrakasten zum gegliederten Schulsystem). Eine Studie des DGB belegt, dass nur ein Drittel der AusbildungsabgängerInnen über Einstellungsaussichten verfügen. Wer eine Arbeit hat und bis in den Ruhestand ohne lange Zeiten der Arbeitslosigkeit durchkommt, wird trotzdem nur noch eine Rente auf der Ebene der Hartz-IV Zuwendungen erhalten[23].
Auch Studierende können sich dieser Situation nicht entziehen. Die Krise, die bis jetzt die ArbeiterInnen betroffen hat, macht auch vor ihnen nicht halt. Die Zahl der Ferienjobs ist seit Beginn der Krise um 75% zurückgegangen. In der Industrie wird kaum noch auf Studierende als LeiharbeiterInnen zurückgegriffen, obwohl diese sich so ihr Studium finanzieren wollen. Ein zentrales Problem ist hierbei die Kurzarbeit, da die Unternehmen weiterhin ihre eigenen ArbeiterInnen bevorzugen, bevor extern Beschäftige zugelassen werden. Das Geld aus Nebenjobs nutzten die jungen Studierenden in der Vergangenheit für Reisen und Urlaub – heutzutage werden sie durch Studiengebühren zusätzlich belastet.
Viele der Studierenden müssen Kredite aufnehmen, um ihr Studium zu finanzieren. Darlehen mit Zinsen zwischen 5,9% und 9,9% in Abhängigkeit von der Kreditlaufzeit haben sich als ein lukratives Geschäft etabliert. Wer diese Möglichkeit nutzt, belastet sich mit Schulden von bis zu 40.000 Euro[24]. Nachdem die universitäre Laufbahn abgeschlossen ist, sind sie gezwungen, ein Praktikum nach dem anderen zu absolvieren, meist ohne Bezahlung, um – wie die herrschende Klasse es nennt – „Fachkompetenz” zu erwerben. Hierbei handelt es sich letztendlich um eine verdeckte Ausbeutung von Jugendlichen.
Wir sprechen also von einer Generationen junger Menschen, die ihre Zukunft verpfändet sehen, und dazu gezwungen sind, sich zunehmend auf ihre Eltern zu verlassen. Diese jungen Menschen werden in Griechenland als „Generation 700”, in Spanien als „Generation 1000“ und in Deutschland als „Generation Praktikum” bezeichnet. Diese Phänomene verdeutlichen, dass der Kapitalismus nur formell „Chancengleichheit“ bietet. Die Realität sieht ganz anders aus, denn die Zukunft der Jugend ist v.a. durch Arbeitslosigkeit und eine elende Existenz bestimmt, oder im besten aller Fälle von ewiger Elternabhängigkeit, wie der allgemeine Trend in den mediterranen ländern unter Beweis stellt.
Die Sorge der herrschenden Klasse ist, dass die Proteste zu einem großen Resonanzboden für ein tiefes Unbehagen in weiten Teilen der Gesellschaft werden könnten. So könnten sich Studierendenproteste mit ArbeiterInnenprotesten vereinen, beispielsweise mit Protesten in der Automobilindustrie im Rahmen einer Verschlimmerung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Denn die KapitalistInnen haben den Kampf schon aufgenommen: im Dienstleistungssektor, wie im Falle Quelle, in der Automobilbranche, wie im Falle von Opel (die zunächst allein in Deutschland 4.000 der etwa 25.000 Stellen wegstreichen wird) oder in der Metallindustrie (wo laut Gewerkschaftsangaben bis zu 700.000 Arbeitsplätze bis Ende 2012 wegfallen könnten).
Angesichts dieser katastrophalen sozialen Perspektiven für die ArbeiterInnenklasse und die Studierenden ist es auch die Aufgabe revolutionärer Organisationen, auf die Notwendigkeit der Zusammenführung von Studierenden- und ArbeiterInnenkämpfen hinzuweisen. Eine Verbindung von Studierenden- und ArbeiterInnenkämpfen wird insofern notwendig, als dass „Proteste der Studierenden allein nicht ausreichen, um wirkliche Änderungen am Bildungssystem durchzusetzen: Studierende können wenig sozialen Druck aufbauen. Sie können beispielsweise die Infrastruktur eines Landes nicht lahmlegen, was bei Streiks von ArbeiterInnen sehr viel einfacher ist, wie z.B. beim LokführerInnenstreik Ende 2007 besonders deutlich wurde. […] [N]ur die wenigsten Studierenden werden später leitende Posten übernehmen – die überwiegende Mehrheit wird sich früher oder später in Lohnabhängigkeit begeben müssen, wenn sie es nicht jetzt schon in Nebenjobs tun. Mit den ArbeiterInnen eint uns also nicht nur, dass wir den gleichen kapitalistischen Zwängen unterliegen, sondern auch der Fakt, dass die meisten von uns später selbst ArbeiterInnen sein werden."[25]