Zum Fall Sarrazin
Klassenkampf ist die Antwort auf Wirtschaftskrise und Rassismus
09/09/2010
Von Mark Turm
Die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30-er Jahren entlarvt die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, selbst in den imperialistischen ländern wie Deutschland, den großen Massen eine ausreichende Grundversorgung, geschweige denn Wohlstand zu bieten. Gleichzeitig offenbart sie den armseligen und abgründig verbrecherischen Charakter der herrschenden Klasse, sowie die Feigheit ihrer Denker und Ideologen, die angesichts des zu erwartenden Klassenkampfes durch die rasante Verelendung immer breiteren Schichten der Bevölkerung, auf Kriminalisierung und Hetze gegen Ausländer und Arme setzen. Nicht die Wirtschaftskrise und die sozialen Folgen von Spekulationsgeschäften und milliardenschweren Steuergeschenken an Banken und Unternehmen, sondern die Integration wird nun als »das Mega-Thema der nächsten Jahre« (SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz) erkoren. Dabei werden unter dem Vorwand, die Problemen einer »misslungenen Integration« von in Deutschland lebenden Ausländern zu thematisieren, Rassentheorien aus der Mottenkiste hervorgeholt und wieder einmal salonfähig gemacht. Die schlimmsten Vorurteile gegenüber Ausländern und Armen werden als wissenschaftliche Erkenntnisse dargestellt und und mit Zahlen als endgültige empirische Beweise untermauert – in der Absicht, ganze Bevölkerungsgruppen und Schichten zu diffamieren, um von den sozialen Ursachen der Misere in allen ihren Facetten abzulenken. Nicht der auf Ausbeutung der Lohnabhängigen basierende Kapitalismus ist schuld an der Arbeitslosigkeit und Misere von Millionen, nicht die Bankenrettung und die staatlichen Hilfen für Industrielle ist der Grund für die Kürzungsmaßnahmen im sozialen Bereich – sondern die auf die staatlichen Almosen („Transferleistungen“) angewiesenen einheimischen und ausländischen Armen, wobei sich ihr Profil nach Bedarf ändert: Mal sind es Minijobber und Geringverdiener, mal Hartz IV-Empfänger, oft MigrantInnen, heute allen voran Türken und Araber, vor einigen Monaten waren die Griechen an der Reihe.
Elitedenken und Rassismus als Ableiter für sozialen Unmut
Sarrazin – von bürgerlichen Medien zum „Provokateur“ gekürt, einer der gern „Missstände“ anprangert, sich jedoch lediglich im Ton „vergreift“ – fordert einen härteren staatlichen Umgang mit „integrationsunwilligen“ Ausländern, sowie effektivere Zwangsmassnahmen gegen Arbeitslose („Unterschichten“) und Hartz IV-Empfänger. Als Berliner Finanzsenator beschimpfte Sarrazin jeden, der seinen Sparkurs nicht mittragen wollte und der Berliner Senat folgte ihn, denn die Stadt lebte »über ihre Verhältnisse«.
Thilo Sarrazin, 2002 von der SPD und der PDS, der Vorgängerin der Linkspartei, zum Finanzsenator (bis 2009) in Berlin berufen und heute im Vorstand der Bundesbank, schaffte es, einen radikalen Sparkurs durchzusetzen –dank desStillschweigens der Linkspartei, die sich immer wieder auf die unweigerlichen „Sachzwänge“ der Regierungsbeteiligung und -verantwortung beruft. Unter der Federführung Sarrazins wurden in Berlin Proteste ausgesetzt, Streiks ins Leere laufen gelassen und die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gezwungen, einen zehnprozentigen Lohnverzicht hinzunehmen. Für seine Verdienste, also das ständige Einprügeln auf Lohnabhängige, Arbeitslose und Rentner, aber auch auf Schüler und Studenten, wurde er mit einem Posten beim Vorstand der Bundesbank belohnt. Allein deshalb wäre die aktuelle Debatte um die Äußerungen Sarrazins scheinheilig und verlogen, denn schon bei der Berufung zur Bundesbank war abzusehen, dass Sarrazin gegen Arme und Ausländer weiterhin hetzen würde.
Weder die SPD-Führung, noch die Bundesregierung hat versucht, Sarrazins Berufung zu verhindern. Auch die Linkspartei trägt große Verantwortung hierfür, denn sie hat sich sieben Jahre lang hinter seiner Person versteckt, um vor der Wut der Beschäftigten und Armen Berlins verschont zu bleiben.
Der Rummel um Sarrazins Aussagen ist also kein Zufall. Nachdem die Wirtschafts- und Finanzkrise wie eine Bombe geplatzt ist, und der Staat eingreifen musste, um das Bankensystem und die Industrie vor dem Ruin zu retten, haben sich die Erosionstendenzen im bürgerlich-demokratischen Regime beschleunigt. So ist die Legitimation des jetzigen Wirtschaftssystems unter vielen in Deutschland lebenden Menschen so niedrig wie noch nie: So laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung wünschen sich 80 Prozent der Bevölkerung ein besseres Wirtschaftssystem als den Kapitalismus.
Die nun von Sarrazin angestoßene gesellschaftliche „Debatte“ über „Missstände in unserer Gesellschaft“ zielen darauf, die Debatte um die Wirtschaftskrise, um gierige Manager und Steuergeschenke für Milliardäre, Sozialabbau, Rentenkürzungen usw. durch einen reaktionären und rassistischen Diskurs zu ersetzen, der den Fokus auf die ethnisch-kulturelle Ebene verschiebt. Somit wird auch beabsichtigt, die wachsende Verzweifelung des in den Ruin voranschreitenden Kleinbürgertums sowie die Wut des Lumpenproletariats zu aktivieren, sie gegen Ausländer im allgemeinen, heute insbesondere gegen Muslime, zu lenken. Umfragen zufolge könnte eine von Sarrazin angeführte rechte Protestpartei auf Anhieb 18 Prozent der Wahlberechtigten für sich gewinnen. Der Diskurs von Sarrazin entspricht also dem Wunsch der herrschenden Klasse, auf ideologischer Ebene den Erosionstendenzen im Regime entgegen zu treten, die Wirtschaftskrise und ihre Verursacher aus der Schusslinie zu nehmen und dafür andere, Schwache und Arme, an den Pranger zu stellen. Somit wird versucht, auch den sich noch sehr langsam formierenden sozialen Widerstand im Entstehen zu spalten: erfolgreiche Massenblockaden in Köln, Dresden und vor kurzem in Dortmund, Hinterfragung der Strategie der Gewerkschaftsspitzen von immer mehr KollegInnen, Massenstreiks von Studierenden – um nur einige zu nennen.
Die bürgerliche und kleinbürgerliche Kritik an Sarrazin
Unter Berücksichtigung der o.g. Elemente ist nicht schwer zu erkennen, dass der Grund für die „Schwierigkeiten“ im Umgang mit Sarrazin und seine Äußerungen letztendlich darin liegt, dass die im Dienste des Kapitals stehenden Politiker, Ideologen und Talkmaster ihren Herrschern ideologisch nicht anprangern können. Die bürgerliche und kleinbürgerliche Kritik an Sarrazin kann und darf nicht in einer Kapitalismuskritik enden, sie muss sich auf die von Sarrazin und Co. gelieferten Daten und Aussagen beschränken. Deshalb fällt sie auch so schwach aus. So beschränken sich die kritischen Stimmen auf den Versuch, Sarrazins Aussagen lediglich mit dem Hinweis zu „widerlegen“ Sarrazins Zahlen würden nicht so stimmen. In diesem Sinne bekräftigte SPD-Parteichef Sigmar Gabriel (rbb) seine Kritik gegen Sarrazin mit dem Hinweis, ausschlaggebend seien nicht dessen Äußerungen über Integrationsprobleme, sondern die Aussage zur angeblich genetischen Disposition von Juden und anderen Gruppen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die Notwendigkeit »eine offene Debatte« zu führen, ohne dabei Themen zu tabuisieren, jedoch gleichzeitig bemüht zu sein, das „Ansehen Deutschlands im Ausland“ nicht zu schädigen.
Die SPD ist bemüht, sich von diesem Sozialdemokraten abzugrenzen, der die sozialdemokratische Logik letztendlich nur bis zu seiner logischsten Konsequenz führt: In der Arbeitsmarktpolitik gelten Anreize und Bestrafung als verlässliche Methoden, Menschen zu etwas zu bewegen. Gleiches gilt für die Ausländerpolitik: gesellschaftliche „Integration“ oder Abschiebung, nach dem Motto, wer sich nicht unterordnet, der bekommt es mit Abschiebung oder Kürzung der Hartz IV-Bezüge zu tun. Das enfant terrible der Sozialdemokratie verarbeitet lediglich die in der Gesellschaft, und somit auch in der Partei, vorhandenen Ressentiments gegen Ausländer im allgemeinen, besonders gern gegen Muslime mit einer guten Portion Rassenideologie.
Sarrazins „Fehler“ ist natürlich nicht, gegen „integrationsunwillige“ und „unproduktive“ Muslime gehetzt zu haben. Schon im gescheiterten Ausschlussverfahren aus der SPD hieß es, seine Bemerkungen seien nicht rassistisch sondern nur etwas unbequem für die Partei, jedoch „können sie zugleich auch nützlich sein, weil sie die Diskussion voranbringen“. Sarrazin hat „die rote Linie überschritten“ – nicht erst, als er auf die genetische Schwäche von Muslimen hinwies, sondern als er behauptete, die Juden hätten ein bestimmtes Gen[1], das sie von anderen Völkern unterscheide. Die Rassenideologie der Nazis wird heute auf die Muslime ausgedehnt und durch den sozialdemokratischen Mund eines Paranoikers ausgeschieden.
Genetische Disposition – oder doch Armut, Ausbeutung und Ausgrenzung?
In dieser Debatte wird nichts über die Auswirkungen von permanenter sozialer Ausgrenzung, wie Armut, die Benachteiligung in der Aus- und Weiterbildung, auf Menschen und ihre Fertigkeiten und Begabungen gesagt. Biologische Merkmale genetischen Ursprungs werden gern von bürgerlichen Politikern herangezogen, um manche Bevölkerungsgruppen nach ihrer „Essenz“ zu betrachten, d.h. es wird angenommen „die Exemplare einer (sozialen) Kategorie teilten die gleiche materiell-biologische Essenz“[2], was eindeutig rassistisch ist, denn die Unterschiede sind somit unveränderlich. So werden auch tatsächliche bzw. erfundene IQ-Unterschiede in pseudowissenschaftlicher Manier auf ganze Populationen angewandt, um die bereits stattfindende Ausgrenzungs- und Stigmatisierungspolitik gegenüber Armen und Migranten zu verschleiern. Nicht die schlechte Ernährung oder mangelndes Geld für die Bezahlung von teurer Nachhilfe sind ausschlaggebend für gravierende Leistungsunterschiede an Schulen, sondern eine schlechte genetische Disposition. Umgekehrt ist eine gute genetische Disposition Grund dafür, zur Elite zu gehören. Das sind diejenigen, die aufgerufen sind den Untergang Deutschlands aufzuhalten: gegen die Ausländer, überwiegend Muslime, wie auch die „Unterschichten“ in Deutschland, die die Grundlagen des Wohlstands unterminieren, jene die durch Gebärfreudigkeit ihrer Frauen und allgemeine Minderbegabung Deutschland zum Untergang führen, diejenigen, die auswandern oder bestraft werden sollen. Ähnliches können wir in in Holland und der Schweiz beobachten; in Frankreich sind es die „Zigeuner“ oder Sinti und Roma und Maghrebiner, die Latinos in den USA, in Israel die Palästinenser usw. Auf diese Weise wird vermittelt, alle sozialen Unterschiede sind auf absolute und unveränderliche Kategorien zurückzuführen, auf unbewegliche Prinzipien ethnisch-kultureller Zugehörigkeit.
Rassisten wie Sarrazin zu bekämpfen heißt: für den Sozialismus kämpfen
Die Liste der Sarrazin-Unterstützer und -Versteher unter den bürgerlichen und kleinbürgerliche Ideologen wird immer länger und die Debatte um die Forderungen nach mehr Kontrolle und Repression von integrationsunwilligen Migranten immer lauter. Die Stimmen zum Schweigen zu bringen setzt voraus, zu erkennen dass die kapitalistische Gesellschaft ein auf Konkurrenz und Ausbeutung basierendes System ist, das soziale Ungleichheiten hervorruft, festigt, permanent erweitert und deshalb gestürzt werden muss. Der Kampf gegen Rassisten, mit SPD- oder NPD-Parteibuch sowie gegen Nazis im allgemeinen, kann nur erfolgreich sein, wenn dieser mit Angriffen gegen das Kapital verbunden wird. So liegt der Schlüssel zum erfolgreichen Kampf gegen Rassisten und Nazis im Kampf gegen Arbeitsplatzabbau, gegen Verelendungsmaßnahmen wie Hartz IV und Agenda2010, gegen Arbeitslosigkeit, gegen Armut, gegen die Beschneidung der demokratischen Rechte, gegen Polizeigewalt, gegen Abschiebung von Ausländern und sozialer Ausgrenzung. Der Kampf gegen Sarrazin und seine braunen Unterstützer muss also mit einer revolutionären Perspektive zum Sturz des Kapitalismus und zur Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verbunden werden.
· Schluss mit der Kriminalisierung von Minderheiten!
· Abschiebestopp jetzt!
· Volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben!
· Verhinderung von Abschiebungen/ Kampf den Abschiebeknästen!
· Weg mit den Ausländergesetzen!
· Für das Recht auf Arbeit durch Aufteilung der vorhandenen Arbeit auf alle, bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Arbeiterkontrolle der Produktion!
Fußnoten
[1] Schon etwas merkwürdig erscheint dabei die Tatsache, dass selbst israelische Institute über die gemeinsamen genetischen Wurzeln von Juden sprechen, wohl um ihre Ìberlegenheit gegenüber Palästinenser und Araber sowie ihr biblisches Recht auf die Territorien von Palästina zu begründen. „Zwei Forschergruppen haben unabhängig voneinander Proben aus dem Erbgut hunderter Juden aus verschiedenen Regionen Europas, Asiens und Afrikas auf Verwandtschaftshinweise untersucht und mit Proben der benachbarten nichtjüdischen Volksgruppen der jeweiligen Regionen verglichen – und können die mythische Diaspora nun naturwissenschaftlich bestätigen. »Die Studie stützt die Idee eines jüdischen Volkes mit gemeinsamer genetischer Historie«.“ Jüdische Allgemeine, 17.06.2010 (http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7637/page/1).
[2] Bonath, Jürgen: Soziale Diskriminierung in Abhängigkeit von impliziten Theorien über Anlage und Umwelt. Aachen: Shaker, 1998.
(Danke an S. und Systemcrash)