Sueddeutsche.de, 20.01.2011
Tunesische Opposition Aus der Folterkammer auf die politische Bühne
25/01/2011
Sie kommen aus dem Untergrund, aus Gefängnissen und aus dem Exil: Die tunesische Opposition formiert sich. Auch die Islamisten melden sich zurück.
In der ersten Reihe der Demonstranten gegen die neue Regierung schritt ein Mann die Avenue Habib Bourguiba entlang, den die Tunesier lange nicht gesehen hatten: Sadok Chourou, Professor der Medizin, der einst Vorsitzender der nie legalisierten Islamisten-Partei an-Nahda (Wiedergeburt) war, bis ihn Präsident Ben Ali ins Gefängnis werfen ließ. Dort verbrachte er 20 seiner 63 Lebensjahre, zeitweise in Dunkelhaft und schwer gefoltert. Während der Revolte gegen die Diktatur waren die verbotenen Islamisten nicht hervorgetreten. Jetzt melden sie sich zurück.
Ihr Führer Rached Ghannouchi hat seine Rückkehr aus dem Londoner Exil angekündigt. Doch sein Namensvetter, der mit Rached nicht verwandte Premierminister Mohamed Ghannouchi, wendet ein, dazu müsse erst eine Amnestie erlassen werden. Denn der Scheich wurde einmal zum Tod verurteilt, dann zu lebenslanger Haft begnadigt, aber nie außer Verfolgung gesetzt. Zur Wahl des künftigen Präsidenten wird an-Nahda zwar keinen Kandidaten aufstellen, an den Parlamentswahlen will sie aber teilnehmen. "Es gibt ohne sie keinen Ìbergang zur Demokratie", sagt ihr Pariser Sprecher.
Ghannouchi definiert seine Formation als "islamistisch und demokratisch, sehr nahe der türkischen AKP". Ein Kenner urteilt, der heute 69-Jährige hätte vor der Zerschlagung der Bewegung das Zeug zu einem "tunesischen Erdogan" gehabt. Le Monde zitiert ihn, an-Nahda erkenne Tunesiens Statut der Frauen an, die laizistischste Regelung des Familienrechts der arabischen Welt. Sein Informationsdienst zitiert ihn: "Wir wollen einen friedlichen Machtwechsel, Gedankenfreiheit und Pressefreiheit." Die Partei hat sich immer gegen Gewalt ausgesprochen und bekennt sich zum politischen Pluralismus.
Dennoch verabscheut Tunesiens Bourgeoisie Ghannouchi wie den Teufel. Bei der Parlamentswahl von 1989, als die Islamisten einmal mit unabhängigen Kandidaten antreten durften, bekamen sie örtlich zwischen 15 und 30 Prozent der Stimmen, landesweit schätzungsweise 17 Prozent. Da gemäßigt islamistische Gruppierungen wie an-Nahda von Marokko bis Kuwait existieren, ist schwer vorstellbar, dass ein demokratisches Tunesien einer Kraft dieses Potentials auf Dauer die Legalität verweigern kann.
Macht der Kommunisten
Am anderen Ende des Spektrums der Illegalen steht die Kommunistische Arbeiterpartei, deren Vorsitzender Hamma Hammami vergangenen Freitag aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der 59-jährige Professor für Literatur hat Jahre im Untergrund verbracht und lehnt eine Ìbergangsperiode, die der Partei Ben Alis weiter die Macht sichert, kategorisch ab. "Diese Regierung der nationalen Einheit hat nichts Nationales", sagte er dem Nachrichtensender al-Dschasira. "Sie soll nur das alte Regime mit allen autoritären Strukturen bewahren." Da es nie freie Wahlen oder eine unabhängige Meinungsforschung gab, ist die Stärke der Kommunisten schwer einzuschätzen.
Entsprechendes gilt für den Arzt Moncef Marzouki, 65, bis zur Auflösung der tunesischen Menschenrechtsliga im Jahre 1993 deren Präsident und später Gründer des verbotenen Kongresses für die Republik. Sofort nach seiner Rückkehr aus zehnjährigem Exil in Frankreich erklärte er sich am Dienstag zum Präsidentschaftskandidaten. Unter Intellektuellen genießt er hohes Ansehen.
Der Gewerkschaftsbund UGCT hat nicht nur seine drei Minister aus dem Kabinett schon nach einem Tag wieder zurückgezogen, sondern erklärt, dass er die Regierung nicht anerkennt. Der UGCT war im ganzen Land führend an der Organisation der Demonstrationen beteiligt, die mit Ben Alis Sturz endeten. Anders als die legalen oder noch verbotenen Parteien hat der UGCT überall Büros und Hunderttausende Mitglieder.
Zusammen haben die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, die Islamisten, die Kommunisten sowie die Unabhängigen, die einen radikalen Bruch mit der Ära Ben Ali wollen, mehr Gewicht als die kleinen legalen Oppositionsparteien.
Legale Oppositionsparteien
Unter ihnen ist die Demokratische Fortschrittspartei PJD, deren Führer Nejib Chebbi der Regierung als Minister für die Entwicklung der ländlichen Gebiete angehört, wahrscheinlich die bekannteste. Der 66-jährige Anwalt Chebbi, kultiviert und aus guter Familie, sympathisierte in seiner Jugend mit der extremen Linken und dem arabischen Nationalismus. Später wurde er Sozialdemokrat. Mehrmals ließ Ben Ali die Verfassung ändern, damit Chebbi nicht für die Präsidentschaft kandidieren konnte.
Sozialdemokrat ist auch der Arzt Mustapha Ben Jaafar, 70, jetzt Gesundheitsminister. Er gründete seine eigene Partei der linken Mitte, das Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit. Sie gehört der Sozialistischen Internationale an, aus der Ben Alis Staatspartei RCD soeben erst ausgeschlossen wurde. Wie Chebbi fand Jaafar nie genug Unterschriften von Mandatsträgern, um kandidieren zu können. Der Ex-Kommunist Ahmed Brahim und Minister für höhere Erziehung, dessen Partei Ettajdid (Erneuerung) aus der alten KP hervorging, ist der Einzige, der 2009 gegen Ben Ali antreten konnte. Er erhielt offiziell 1,57 Prozent der Stimmen.