Türkei: Die Fabrikbesetzung von Greif
14/03/2014
Seit 10. Februar halten die ArbeiterInnen eine Fabrik des Verpackungsherstellers Greif in Esenyurt, Istanbul, besetzt. Greif hat in Istanbul drei weitere Fabriken. Am 17. März haben die GreifarbeiterInnen auch die Gewerkschaft DISK/Textil besetzt und die Gewerkschaftsbürokratie zur aktiven Unterstützung aufgefordert. Suphi Toprak (Revolutionäre Internationalistische Organistation, deutsche Sektion der FT-CI) führte ein Interview mit einem Greif-Arbeiter.
Suphi Toprak: Kannst du dich bitte vorstellen?
Engin Yılgın: Ich bin DISK/Textil-Vertreter der Region Esenyurt und mein Name ist Engin Yılgın. (DISK: Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei. DISK/Textil: Mitgliedsgewerkschaft der Textilsparte.)
S.T.: Sind sie Arbeiter hier bei Greif? Habt ihr als Arbeiter in dieser Fabrik gearbeitet?
E.Y.: Ja. Ich habe sechs Monaten hier gearbeitet. In dieser Zeitspanne haben wir mit den ArbeiterInnen die Organisierung gestartet. Wegen gesundheitlichen Problemen musste ich meine Arbeitsstelle verlassen. An der Organisierung habe ich mich von außen weiterhin beteiligt. Aufgrund der gestarteten Organisierung hat die Gewerkschaft mir das Angebot gemacht, gemeinsam zu arbeiten und mit ihr diese Arbeit in der Fabrik fortzuführen. So bin ich als regionaler Vertreter von Esenyurt bei Gewerkschaft DISK/Textil tätig geworden.
S.T.: Was ist der Greif-Kampf und wie hat er begonnen?
E.Y.: Wie bei jeder Fabrik war das Problem, dass die löhne sehr niedrig waren und es Leiharbeit gab. In dieser Fabrik waren 44 Leiharbeitsfirmen tätig. Das waren die dringlichsten Probleme. Gleichzeitig waren die Rechte der ArbeiterInnen vom Chef abhängig und es gab oft Arbeitsunfälle. Vor diesem Hintergrund wurde die gewerkschaftliche Organisierung gestartert und unsere KollegInnen haben ihr Verfassungsrecht benutzt, um Gewerkschaftsmitglieder zu werden. Es wurde ein Kampf gestartet, weil die Tarifverhandlung nicht von der Arbeitergeberseite akzeptiert wurde. Die ArbeiterInnen haben die Initiative übernommen, ohne die gesetzliche Zeitbestimmungen zu einzuhalten, und die Fabrik besetzt, anlehnend an das Prinzip der Selbstorganisierung und daran, dass die Entscheidung und die Macht den ArbeiterInnen gehört.
S.T.: Haben sich alle ArbeiterInnen an dieser Besetzung beteiligt?
E.Y.: Die Gewerkschaftsmitglieder haben sich an der Besetzung beteiligt. Wir haben insgesamt 600 Gewerkschaftsmitglieder und davon waren 500 aktiv dabei.
S.T.: Wie funktioniert der Entscheidungsprozess der ArbeiterInnen?
E.Y.: In der besetzten Greif-Fabrik in Hadimköy haben wir 14 Abteilungen und jede Abteilung hat ein eigenes Komitee. Es gibt noch ein Komitee, das die Entscheidungen und Diskussionen in diesen 14 Komitees bewertet. Jede Entscheidung wird durch Initiative der ArbeiterInnen getroffen. Seit dem Beginn der Fabrikbesetzung am 10. Februar trifft sich unser Fabrikkomitee jeden zweiten Tag.
S.T.: Es gab einen Konflikt mit eurer Textil-Gewerkschaft. Kannst du ihn uns erklären?
E.Y.: Wir haben uns ein Jahr lang bei DISK/Textil organisiert. In der Stammbelegschaft haben wir in Abstimmungen die Mehrheit erreicht und wir konnten auch die LeiharbeiterInnen gewerkschaftlich organisieren. Nach dem Erreichen der Mehrheit unter den ArbeiterInnen haben wir die Tarifverhandlungen aufgenommen. Anstatt unsere Forderungen zu akzeptieren, hat der Greif-Vorstand uns aber gedroht, die Fabrik zu schließen und die ArbeiterInnen rauszuwerfen. Mit unserer Mehrheit konnten wir dafür sorgen, dass einer gekündigte Arbeiter wieder eingestellt wird. Die DISK/Textil-Gewerkschaft hat eine Erklärung gegen unseren gerechten Kampf verabschiedet. Wir sind daraufhin zum Dachverband DISK gegangen, um sie aufzufordern, dass sie unseren Kampf unterstützen. Auch wir sind ein Teil dieser Konföderation und DISK soll daher zu ihrer Verantwortung stehen.
Der DISK-Vorstand hat uns gesagt, dass sie sich nicht in die interne Angelegenheiten der Mitgliedsgewerkschaften einmischen werden. Wir haben dem DISK-Vorstand gesagt, dass sie auf unserer Seite stehen und konkrete Schritte unternehmen müssen. Leider hat DISK an diesem Punkt den Kampf nur aus der Ferne beobachtet anstatt auf unserer Seite zu stehen.
S.T.: Was ist auf der 47. Gründungsfeier von DISK vorgefallen?
E.Y.: Wir wollten, dass unsere Stimme der Besetzung gegen die moderne Sklavenarbeit, also die Leiharbeit, auf dieser Veranstaltung erhöht wird. Aus diesem Grund sind wir zur Gründungsfeier von DISK gefahren. Wir waren dort als Stimme des Streiks, um zu zeigen, dass die ArbeiterInnenorganisation DISK ihre Gründungsfeier mit ArbeiterInnen feiern muss. Im Programm waren wir nicht vorgesehen und unser Rederecht wurde nicht anerkannt, also organisierten wir eine Aktion und besetzten die Bühne. Die Gründungsfeier wurde dann abgesagt.
S.T.: Hat DISK ihre Haltung nach dieser Aktion geändert?
E.Y.: Wegen der fehlenden Unterstützung hatten wir Aktionen organisiert. Wir haben in der Zentrale von DISK in Åžişli und haben eine Presseerklärung vorgetragen. Der DISK-Vorstand hat uns dann zehn Tagen nach Beginn unseres Streiks besucht. Damit dieser Besuch nicht oberflächlich bleibt, haben wir unsere konkreten Forderungen als Presseerklärung vor dem Fabriktor bekannt gegeben. Einige wenige Mitgliedsgewerkschaften von DISK haben uns aber besucht und finanziell unterstützt. Bisher hat DISK aber keine Solidaritätskampagne organisiert. Es liegt kein Aktionsplan von DISK zur Unterstützung unseres Streiks vor.
S.T.: Was sind die Forderungen in diesem Streik?
E.Y.: Wir fordern die Abschaffung der Leiharbeit, die unsere Zukunft und unser Leben gefährdet und laut Verfassung illegal ist. Wir fordern also, dass alle LeiharbeiterInnen fest angestellt werden. Wir fordern außerdem die Erhöhung der löhne der ArbeiterInnen, die jahrelang mit Niedriglöhnen unter despotischen Bedingungen versklavt wurden. Wir sind von jeglichen sozialen Rechten ausgenommen und wir verlangen diese Rechte jetzt. Wir fordern Menschen- und Grundrechte; diese Forderungen werden ignoriert, also wir leisten wir Widerstand.
S.T.: Welche Haltung habt ihr zu den Arbeitsstunden eingenommen? Hier arbeiten ArbeiterInnen bis zu zwölf Stunden am Tag, gibt es die Forderung diese auf acht Stunden zu reduzieren?
E.Y.: Es gibt hier drei Schichten, zudem Leistungszwang, also Akkordarbeit. Die löhne sind sehr niedrig, daraus resultiert der Zwang zu Ìberstunden. Das ist das hier das meist verbreitetste Problem. Mit der Erhöhung des Lohns und dem Erringen anderer sozialen Rechte werden die ArbeiterInnen mit ihren Familien mehr Zeit verbringen können.
S.T.: Ihr haltet seit 30 Tagen die Fabrik besetzt. Wollt ihr nun selbst produzieren? Welche Schwierigkeiten stehen dabei vor euch?
E.Y.: Falls der Arbeitergeber unseren Forderungen nicht nachkommt, wird unser Widerstand hier fortgesetzt. Bis dahin wollen wir auch Pläne schmieden: Ob eine Selbstproduktion möglich ist oder ob der Verkauf der Fabrik auch geht. Wir können die Bedingungen heute nicht voraussehen. Wir denken aber daran selbst zu produzieren.
S.T.: Für die Aufrechterhaltung eines solch großen Produktionsprozesses müsste ein großes Solidaritätsnetzwerk entstehen. Habt ihr in dieser Richtung konkrete Erfahrungen? In welchen Städten habt ihr zum Beispiel Solidaritätskomitee? Was wird dort unternommen, um den Kampf auszuweiten?
E.Y.: Die vorhandenen Solidaritätskomitees sind auf die Bedürfnisse des Streiks ausgerichtet. Es wurde bereits wichtige Solidaritätsarbeit auf die Beine gestellt, in verschiedenen Städten. Im Ausland führt BIR-KAR Aktionen und Spendenkampagnen durch.Auf der anderen Seite unterstützen uns die Foren der Gezi-Bewegung kräftig. Aber wie du sagst, die Ausweitung der Solidarität macht die Selbstproduktion viel besser möglich.
S.T.: In Argentinien gibt es Beispiele der Selbstproduktion. Die seit 13 Jahren ohne Bosse und BürokratInnen produzierende Keramikfabrik Zanon verkörpert eine wichtige Errungenschaft der ArbeiterInnenklasse. Hier ist eine Forderung die Verstaatlichung der Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle. Die Fortführung der Produktion und die Erneuerung der Maschinen usw. bilden einen sehr kostspieligen Prozess. Nur wenn die finanzielle Möglichkeiten des Staates in Anspruch genommen werden, kann dafür langfristig eine lösung gefunden werden.
E.Y.: Die Erfahrungen in Argentinien sind sehr wichtig. Zanon ist ein Beipiel, von dem wir viel lernen können.
S.T.: Der Boykott kapitalistischer Unternehmen kann nur mit den finanziellen Möglichkeiten des Staates überwunden werden. Auch kann eine Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle nicht zwecks Profit die Arbeitsstunden auf zwölf Stunden halten, Leiharbeit zulassen, die löhne senken, das Leben der Arbeitenden gefährden und einfach so dringend nötige Kredite bekommen. Daher ist der Anspruch der Möglichkeiten des Staates enorm wichtig. Die Schlüsselrolle ist dabei, dass die ArbeiterInnen die einzige Entscheidungsmacht über die Selbstproduktion und die Fabrik sind. Dieser Schritt würde auch einen Eingriff in den Staatscharakter bedeuten.
Habt ihr Erwartungen an DISK?
E.Y.: DISK hat in der Geschichte der türkischen ArbeiterInnenbewegung einen ehrenvollen Platz. DISK hat widerständige ArbeiterInnenkampagnen geführt. Wir haben diesen Folge geleistet und uns organisiert. Dennoch wurden die kämpferischen ArbeiterInnen nicht unterstützt. Wir üben gegenüber DISK und DISK/Textil Druck aus. Wir sagen, dass die Gewerkschaft den ArbeiterInnen gehört. Dieser Kampf geht weiter bis die ArbeiterInnen die Gewerkschaften erobert haben.
S.T.: Fordert ihr auch, dass DISK in ihren organisierten Fabriken die Arbeit niederlegt bzw. verlangsamt und einen Solidaritätsstreik organisiert?
E.Y.: Ja. Wir fordern DISK in den von ihnen organisierten Fabriken zur Arbeitsniederlegung auf, zur Arbeitsverlangsamung und zur Offenlegung eines Aktionsplans. Wir fordern auch, dass DISK eine internationale Kampagne organisiert. Ferner haben wir den Aufruf gestartet „Spende ein Tageslohn an die Greif-ArbeiterInnen“. Dies sollte auch in den Fabriken und Betrieben durchgeführt werden.
S.T.: Die DISK-Konföderation zu aktivieren und die Fabriken zu mobilisieren könnte eure Selbstproduktion logistisch und politisch unterstützen?
E.Y.: Natürlich. Die jetzige Passivität hilft dem Arbeitergeber und schwächt den ArbeiterInnen. Um dies zu überwinden, brauchen wir die Unterstützung der DISK-Konföderation.
S.T.: Wie verläuft die Verhandlung mit dem Arbeitergeber?
E.Y.: Der Arbeitergeber hat einen Berater angestellt und möchte zu einen Ergebnis kommen. Greif ist ein internationaler Konzern und will einen möglichen Verlust an der Börse verhindern. Wir haben hier eine Weltmarke in dieser Sektor als Gegner. Zuletzt waren wir am 10. März am gemeinsamen Tisch und unsere Forderungen wurden nicht erfüllt, das Gespräch negativ beendet.
S.T.: Mit wem verhandelt der Arbeitgeber? Mit euch oder mit DISK?
E.Y.: Es wird indirekt über DISK/Textil verhandelt.
S.T.: Was ist jetzt die Lage und wie wird sich die Lage entwickeln?
E.Y.: Natürlich tauchen Schwierigkeiten auf, wenn der Kampf sich in die länge zieht, aber wir sind entschlossen wie am ersten Tag. Wir werden auch aktiv in das Geschehen eingreifen. Wie haben Verbindungen in den anderen Greif-Fabriken auf der asiatischen Seite Istanbuls. Wir treffen uns mit den dortigen ArbeiterInnen. Wir werden weiter kämpfen bis wir siegen.